© Tobias Schmitt
Mann und Mythos: Horst Seehofer im Bierzelt
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Mann und Mythos: Horst Seehofer im Bierzelt
Horst Seehofer hält an diesem Abend ein historisches Seminar – auch wenn eine Wahlkampfkundgebung in einem vollen Bierzelt in Mühldorf am Inn dafür ein eher ungewöhnlicher Ort ist. Aber Bayern ist das „Bildungsland Nr. 1“ – zumindest in den Broschüren der Staatsregierung und der CSU; da muss gelernt und gepaukt werden, wo und wann es nur geht. Bayern sei Anfang des 19. Jahrhunderts zuerst auf der Seite Österreichs, dann in einem Bündnis mit Napoleon, schließlich, als dessen Stern verglühte, wieder auf der Seite seiner Gegner gewesen, doziert Seehofer. Er wird zunächst ein wenig skeptisch über die Maßkrugränder hinweg beäugt. Doch als Seehofer das befreiende Fazit zieht, die Bayern seien eben immer auf der richtigen Seite, ist der Jubel groß.
Immer auf der richtigen Seite – Seehofer denkt längst über den kommenden Sonntag, den Tag der Landtagswahl, hinaus. Auch über die Bundestagswahl hinaus, die acht Tage später folgt. Er arbeitet schon an seinem eigenen Mythos: Der Mann, der immer auf der richtigen Seite steht – und dafür sorgt, dass sein Land auf der richtigen Seite steht. Der Mann, der sein Land, seine Partei und sich von dem Fluch befreit, ein ganz normales Land, eine ganz normale Partei, ein ganz normaler Politiker zu sein. Der Mann, der keine Koalitionen – jedenfalls in Bayern – und keine politischen Gegner kennt. FDP, SPD, Grüne und Freie Wähler kommen an diesem Abend, dem letzten großen Auftritt Seehofers vor dem Wahltag in einem Bierzelt, nicht vor. Sie sind aus dem Mythos Seehofers getilgt, auf die Seite derer geschoben, die zu lange auf einer Seite ausgeharrt haben. Namen wie Christian Ude, Margarete Bause und Hubert Aiwanger sind bei ihm nur ferne Erinnerungen, von voralpinen Fallwinden verweht.
Die einfache Botschaft an die Wähler
Bei Seehofer geht es um die großen Mythen, die fremden und den eigenen: Napoleon, Franz Josef Strauß, Seehofer. Er zählt selbst mit, wie oft er Strauß, den Urvater der CSU, zitiert. Selbstverständlich versieht er diese Genealogie mit einer ironischen Färbung, die sein politisches Lebensprinzip, sein Überlebensprinzip ist – sie erlaubt ihm immer einen Rückzug, wenn sich die politische Fahrspur einmal verengt. Dann war es nur ein kleiner Spaß, den Spaßverderber in den Redaktionsstuben wieder einmal ernst genommen haben. Sein vielzitierter Satz, er werde nie die Beliebtheitswerte der Kanzlerin erreichen, sei von Angela Merkel richtig verstanden worden, sagt Seehofer in Mühldorf – es ist ein Evergreen in seinen Wahlkampfreden. Doch die Journalisten hätten ihm daraus den Strick drehen wollen, er habe sich Angela Merkel unterworfen. Alles lacht und versteht: Wer ihn ernst nimmt, hat schon verloren; wer ihn nicht ernst nimmt, hat auch verloren.
Seine Botschaft an die Wähler ist einfach: Das Geplänkel der Parteien, das politische Alltagsgezerre, die Mäkeleien der Journalisten – kümmert Euch nicht darum, Bayern ist mit mir auf der richtigen Seite. Das „Euch“ ist eine beliebte Anrede, die Seehofer bei seinen Wahlkampfveranstaltungen häufig gebraucht. Wir gehören zusammen, suggeriert er – Bayern, CSU, Seehofer. Mit dieser politischen Dreifaltigkeit will er am Sonntag eine neue Seite im Geschichtsbuch aufschlagen. Eine Seite, in dem Bayern wieder zu seiner politischen Sonderrolle zurückfindet und wieder ein Land wird, das von einer eigenen Partei regiert wird, alleine, ohne Partner, die Einflüsterungen aus Berlin ausgesetzt sind. Seine Worte, sein Ziel sei es die Koalition mit der FDP in München fortführen, nimmt niemand für bare Münze, am allerwenigsten die FDP. Die Liberalen strampeln so heftig, um die Wähler vor einer Alleinregierung der CSU zu warnen, dass kaum zu übersehen ist, wo sie sich in Bayern wähnen – im politischen Wildbach, kurz vor der Höllentalklamm.
Ein verführerischer Ort
Seehofers Stellung in der CSU ist mit Vorsitzender nur unzureichend charakterisiert. Edmund Stoiber, sein Vorvorgänger, war gegen ihn ein Anhänger der anti-autoritären Erziehung. Seehofer, der bekanntlich auch kleinste Schmutzeleien unnachsichtig ahndet, hätte dafür gesorgt, dass sich Günther Beckstein und Erwin Huber, die Frondeure gegen Stoiber anno 2007, gegenseitig an den Ohren aus dem Kreuther Hochtal gezogen hätten. Reverenzen an den Spitzenmann gehören zu den Ritualen im Wahlkampf. Die Worte, die Seehofers Umweltminister Marcel Huber, Vorsitzender des CSU-Kreisverbands Mühldorf, findet, gehen aber weit darüber hinaus. Huber preist den Großmut, mit dem ihm Seehofer ein Plätzchen im Kabinett gewährt habe; auf Widerruf selbstverständlich. Seehofer feixt dazu, ironisch natürlich.
Mühldorf am Inn ist ein verführerischer Ort für einen Arbeiter am eigenen Mythos. Die Stadt war lange Jahrhunderte unter der Herrschaft des Salzburgers Fürstbischofs, ein Stachel in Bayerns Fleisch, bis Napoleon die politische Geographie Europas durcheinander wirbelte. Mühldorf kam, in Seehofers Geschichtsbild, auf die richtige Seite, weil Bayern zu diesem Zeitpunkt auf der richtigen Seite war – die Stadt wurde Anfang des 19. Jahrhunderts bayerisch. Und blieb auch bayerisch, als Napoleon nicht mehr auf der richtigen Seite war, aus bayerischer Sicht, die sich mit den Weltläuften deckte. Seehofer wäre nicht Seehofer, wenn er nicht auf spöttische Weise darauf zurückgriff: In Österreich werde gesagt, es müsse etwas geschehen, aber passieren dürfe nichts. Für die Politik tauge diese Maxime wenig. Die Ex-Österreicher, die Mühldorfer, klopfen sich vergnügt auf die Schenkel; sie sind sich sicher, auf der richtigen Seite der Geschichte gelandet zu sein.
Seehofers Autobiografie könnte kaum besser passen
Seehofer wäre ein schlechter Erzähler, wenn er nicht seinen eigenen Aufstieg mit dem Aufstieg Bayerns in eine Parallele setzen und den Mythos des Landes mit seinem eigenen verknüpfen würde. Die Geschichte seiner kargen Kindheit in Ingolstadt als Sohn eines Bauarbeiters fehlt – wie bei den meisten Wahlkampfauftritten – auch an diesem Abend nicht, mit der vieldeutigen Erzählung, wie jeden Freitag eines der Kinder der Familie Seehofer ins Lohnbüro des Vaters geschickt wurde, damit die Lohntüte möglichst ungeschmälert nach Hause kam. Seine Familie habe das Geld gebraucht, um überhaupt das Essen für das Wochenende kaufen zu können. Und jetzt: Bayerischer Imperator – ist man versucht zu ergänzen. Seehofer aber bescheidet sich mit der Bezeichnung Ministerpräsident und lässt die Zuhörer noch wissen, dass sie im Vergleich zu ihm ein schönes Leben hätten, weil er so viel arbeiten müsse – was angesichts seines Wahlkampfkalenders nicht zu leugnen ist. Er hat alle Möglichkeiten ausgeschöpft, vom klassischen Bierzeltauftritt bis zum amerikanisch inspirierten Bürgergespräch, „Seehofer direkt“ genannt. Ein gewaltiges Pensum für einen Mann im 65. Lebensjahr, das von dem unerbittlichen Machtwillen zeugt, der ihn antreibt.
Die Autobiografie des Wahlkämpfers Seehofer könnte kaum besser passen zu dem Aufstieg Bayerns vom Agrar- zum Technologieland – ein Aufstieg, der in seiner Regierungszeit in fast schon ätherische Höhen führt, zumindest in dem Mythos, an dem er arbeitet. Noch nie sei es Bayern so gut gegangen, sagt Seehofer – und belästigt seine Zuhörer im Bierzelt nicht groß mit Leistungsbilanzen, weil Zahlenkaskaden in Mythen nur stören. Die Jugendarbeitslosigkeit „besiegt“; mit der Rückzahlung von Schulden begonnen; bestes Abschneiden der bayerischen Schüler bei Leistungsvergleichen: Das muss genügen, um vor Augen zu führen, dass die Bayern auf der richtigen Seite sind. Für Schwergläubige fügt Seehofer noch an, Bayern sei zwar – noch – nicht das Paradies, aber die Pforte zum Paradies.
Seehofers größte Angst
Es gehört zu den Kunstgriffen Seehofers, dass er sich nicht mit profanen Appellen aufhält, doch am Sonntag der CSU die Erst- und die Zweitstimme zu geben, damit Bayern auf der richtigen Seite bleibe. Damit mögen sich die mittleren Begabungen in der Politik beschäftigen. Er erweckt den Eindruck, als könne die Geschichte gar keinen anderen Lauf nehmen, als dass sich seine Regierungszeit fortsetzt. Und als sei es unvermeidlich, dass der Wahltag in eine eigene Mehrheit der CSU mündet. Wie er die Welt sieht, die bayerische, wird in Seitenhieben auf eine Profession deutlich, die in seinen Augen nur bis zum nächsten politischen Gartenzaun sehen kann – die Journalisten.
Amüsiert sagt er, in der Publizistik werde ihm vorgehalten, er richte die Politik nach dem Willen der Bevölkerung aus. Genau so sehe er es – mehr gebe es dazu nicht zu sagen. Er quält seine Zuhörer nicht mit Ausführungen, wie es kam, dass die CSU als „Partei der Wehrpflicht“, wie sie Seehofer feierte, selbige im Hauruck-Verfahren strich, ohne mit einer politischen Wimper zu zucken. Wie aus der Verlängerung der Laufzeiten der Atommeiler ihre Abschaffung wurde. Wie der Donauausbau mit Staustufen, für den die CSU jahrzehntelang kämpfte, nach einer Flussfahrt Seehofers Vergangenheit war. Wie die Studiengebühren, von der CSU eingeführt und anschließend gestrichen wurden, weil ein Volksentscheid drohte. Seehofer hat eine wunderschöne Überschrift für diese Wendungen gefunden: „Kontinuität im Irrtum“ – sie sei der größte Fehler in der Politik. Also auf einer Seite zu verharren, die nicht mehr die richtige ist, zumindest in den Augen einer mutmaßlichen Mehrheit. Seehofer hätte schon weit vor Waterloo eine energische Kehrtwende vollzogen.
Auf der falschen Seite sein – das dürfte Seehofers größte Angst sein, der er mit einer unablässigen Aufmerksamkeit zu begegnen sucht. Schon in einem Gespräch im kleinen Kreis schweift sein Blick ununterbrochen umher; er scannt die Umgebung, will niemand und nichts übersehen. Es ist eine Hyperaufmerksamkeit, die im Kleinen beginnt und sich im Großen fortsetzt. Seehofer fiele es nicht schwer, einen Meisterspion zu mimen, wenn dieser Berufsstand nicht in einem so geringen Ansehen stünde – fast so wenig geschätzt wie Politiker und Journalisten. Ihm entgehen auch kleinste Veränderungen nicht, die Vorboten größerer Ereignisse sein können. Er spürt Brüche, wo andere noch festen Grund unter ihren Füßen wähnen.
Er gibt sich überzeugt
Über die Gefährdungen, die mit einer solchen seismographischen Begabung einhergehen, ist viel geschrieben und gewitzelt worden – von „Drehhofer“ über „Crazy Horst“ bis zu „Populist“. Sie birgt natürlich auch große Chancen; die Umfragen, die am Sonntag eine eigene Mehrheit der CSU nicht ausschließen, zeugen davon. Für die CSU hätte es nach 2008, als sie mit 43,2 Prozent der Stimmen die eigene Mehrheit einbüßte, weiter bergab gehen können. Die Partei war zutiefst verunsichert; Seehofer hat ihr wieder Selbstvertrauen eingeflößt. Er hat ihr aber auch das Äußerste abverlangt – sie musste schnelle Seitenwechsel mittragen, oft ohne jede Vorwarnzeit. Wer gerade noch das Vokabular für die Atomkraft, den Donauausbau und die Studiengebühren repetierte, musste sich von jetzt auf gleich ein neues Wörterbuch besorgen. Wer gerade eben am Infostand das hohe Lied der Wehrpflicht sang, musste rasch ein Fortissimo für die Berufsarmee einstudieren. Die politische Künstlernatur an der Spitze, wie ein recht zutreffendes Etikett für Seehofer lautet, traf immer wieder auf Parteimechaniker, die noch an einzelnen Schrauben drehten, während er schon lächelnd den ganzen Wagen in die Schrottpresse schob, mochte es sich auch um ein gerade eben eingeführtes Modell handeln.
Seehofer gibt sich überzeugt, dass die Mehrheit der Wähler am Sonntag überzeugt sind, mit ihm auf der richtigen Seite zu stehen – auch wenn sie möglicherweise gar nicht wissen, wo sie sich genau befinden. Follow me, lautet seine Devise, auch wenn oft unklar ist, ob es zur Start- oder zur Landebahn geht. Er habe immer alles durchgesetzt, was er politisch gewollt habe, sagt Seehofer, so werde es auch bei der PKW-Maut für Ausländer kommen. Notfalls müsse man so lange sitzen bleiben, bis die Verhandlungspartner resignierten und einlenkten: „Dann manchen wir es halt, aber geh jetzt!“ Mit Freundlichkeit erreiche man nichts in Berlin, ruft er den Mühldorfern zu, die es mit glucksender Wohligkeit quittieren. So schön kann Geschichte sein: Napoleon befreite sie von der Herrschaft der Österreicher – und Seehofer will so lange im Kanzleramt sitzenbleiben, bis er das Mautpickerl für die Österreicher mitnehmen kann.
Der Atem der Geschichte
Es entbehrt nicht einer gewissen Eleganz, mit der Seehofer überspielt, dass am Sonntag gleichzeitig sein Debüt und sein Finale als Spitzenkandidat stattfinden. 2018 will er nicht mehr kandidieren. Seine früheren Erfolge in seinem Bundestagswahlkreis taugen nicht als Blaupause für die Herausforderung, eine ganze Partei möglichst weit nach oben zu ziehen. Bis 2008, als er als Nothelfer aus Berlin nach Bayern geholt wurde, hatte er seine großen Schlachten in Berliner Regierungs- und Fraktionsämtern geschlagen; vor allem als Bundesgesundheitsminister bewies er Härte. Als Spitzenkandidat ist er ein unbeschriebenes Blatt: Die Festigkeit, mit der Seehofer behauptet, er agiere im Einklang mit dem Volkswillen, gründet sich bislang auf Umfragen. Vor fünf Jahren hatte es für die CSU ein böses Erwachen aus demoskopischen Träumen gegeben.
Aus diesem Debakel hat Seehofer seine eigene Lehre gezogen – politisches Graubrot allein, für das seine Vorgänger Günther Beckstein und Erwin Huber idealtypisch standen, reicht ihm nicht. Es fehlt in seinem Wahlkampf zwar in dieser Hinsicht nicht an einer kalorischen Grundversorgung – neben der PKW-Maut für Ausländer stehen ein fairer Finanzausgleich, Mütterrente, Solidität beim Euro auf dem Speiseplan des Wahlkämpfers Seehofer. Und es fehlt auch nicht am pflichtgemäßen Schulterschluss mit Angela Merkel; wie sollte es auch anders sein, wenn die Vorsitzende der Schwesterpartei CDU im Kanzleramt regiert. Langsam gehen ihm zwar die Lobeshymnen für Merkel aus – „Glücksfall für Deutschland“ – , aber bis zur Bundestagswahl wird Seehofer durchhalten, notfalls mit der Formel „Größter anzunehmender Glücksfall“.
Aber um die CSU wieder in die Sonderstellung zu bringen, die sie so lange behauptet hatte, braucht es mehr, zumindest in Seehofers Augen. Nämlich den Atem der Geschichte, um den sich Seehofer so sehr bemüht: Statt eines Schlussworts zitiert er in Mühldorf die erste Strophe der Bayernhymne. Niemand nimmt ihm an diesem Abend übel, dass er dabei müde und abgespannt wirkt, der Heros der Bayern, die schon Napoleon ein Schnippchen geschlagen haben – die Königswürde, die sie ihm verdankten, überdauerte den Sturz des Korsen. Weil Seehofer rechtzeitig die Seite wechselte, könnte mancher aus Mühldorf mitnehmen – aber das wäre vielleicht doch eine arg komprimierte Fassung des Seehofer-Mythos.
Quelle: F.A.Z.
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Wahl in Bayern: Napoleon, Strauß, Seehofer
Wahl in Bayern
Napoleon, Strauß, Seehofer
Von Albert Schäffer, Mühldorf am Inn
In Bayern blickt der CSU-Vorsitzende längst über den Wahltag hinaus. Horst Seehofer arbeitet schon an seinem eigenen Mythos: Der Mann, der immer auf der richtigen Seite steht.
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