Appenzeller Zeitung, 2. Februar 2015, 14:24 Uhr

Fans beim Spiel FC St.Gallen gegen den FC Zürich am 28. April 2013: Vielleicht schafft ja der FC St.Gallen das Unmögliche und wird Schweizer Meister.
(Bild: Urs Jaudas/Archiv)
Schon eine Woche vor Wiederbeginn der Super League geschieht Unwahrscheinliches: Koloss Bayern München ist ins Wanken geraten, kassierte in einem einzigen Spiel vier Gegentore, so viele wie in 17 Spielen. Möglicherweise ein Signal auch für die Super League.
Fredi Kurth
“Vielleicht“ ist ein langweiliges Wort. Es entbindet den Verfasser von jeglicher Verpflichtung. Aber es ist ein Wort unserer Zeit. Mit “Vielleicht“ war Ende Jahr auch ein “Tatort“-Krimi betitelt. “Kommissar Boris Aljinovic verabschiedete sich mit dem (vielleicht) besten Tatort aus Berlin überhaupt“, schreibt das Magazin “Rolling Stone“. Der Film endet damit, dass Aljinovic angeschossen wird. Wird er überleben? Der Arzt antwortet: “Vielleicht“.
Wie Bayern zu besiegen ist
Das Leben verunsichert momentan die Menschen. Krisen diverser Art lösen alles andere als grosse Hoffnung aus. Aber die Aussichten sind für die meisten auch nicht zum Verzweifeln. Vielleicht mündet die Wirtschaftskrise in eine Rezession. Vielleicht gibt es in der zweiten Jahreshälfte wieder einen Aufschwung. Gleichzeitig wird Planungssicherheit verlangt. Sie ist so weit entfernt wie noch nie. Auch im Fussball gibt es sie nicht. Borussia Dortmund Tabellenletzter. Wer hätte das gedacht? Oder wer hätte den Abschwung des FC St.Gallen zum schwächsten Team der Frühjahrsrunde in der vergangenen Saison vorauszusagen gewagt?
Nur war im Fussball im Gegensatz zur Wirtschaft Planungssicherheit schon immer eine Illusion. Und sie ist heutzutage nur jenen Kick-Unternehmen vergönnt, die über Unsummen von Geld verfügen. Der von einem Sportartikel-Hersteller, zwei Fahrzeug-, einem Computer- und einem Kommunikationsunternehmen unterstützte FC Bayern München steigerte von 2012 bis 2014 seinen Umsatz von knapp 400 Millionen auf 529 Millionen Euro Umsatz, bei einem Gewinn von zuletzt 16,5 Millionen nach Abzug von Steuern. Doch selbst der als unbesiegbar geltende Rekordmeister erlebte beim Bundesliga-Start in Wolfsburg, dass auf dem Rasen der Ball zuweilen ungeahnte Kapriolen schlägt. Dabei kopierte Wolfsburg nur das Rezept, mit dem Real Madrid im vergangenen Jahr in der Champions League die Bayern scheitern liess. Konsequenter Konterfussball und vorne drei starke Stürmer, die fast jede Chance unerbittlich nutzten. Natürlich war Bayern noch im Winterschlaf, inklusive Torhüter Neuer, der in einigen Szenen wie angewurzelt verharrte statt seiner Gewohnheit entsprechend ins Feld hinauszueilen.
Ein bisschen Kulissengeflüster
Beim FC St.Gallen herrscht Planungssicherheit, wenigstens in Bezug auf den Spielerkader. In der Ostschweiz am Sonntag ist zu lesen, dass nur die Verträge von Demiri und Sikorski im Sommer auslaufen. Trainer Jeff Saibene weist im Interview damit auf einen wesentlichen Unterschied im Vergleich zur vergangenen Saison hin. Die Vorbereitung scheint auch sonst ohne grosse Probleme verlaufen zu sein. Darüber wurden wir ja via Tagblatt bis ins letzte Detail informiert, erfuhren zum Beispiel, dass der FC St.Gallen mit 40 Personen in der Türkei weilte und die Spieler im Hotel keine Meersicht hatten, weil sich die Doppelzimmer alle auf der dem Mittelmeer abgewandten Seite befanden. Es sind ja oft die Kleinigkeiten, die bei solchen Anlässen interessieren, weil das Fussballjahr selber noch nicht viel hergibt.
Mit Matchbericht zur Zensur
Trainingslager wurden einst unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchgeführt. Ich durfte zu Beginn der 1980-er als Sekretär des Vereins die Mannschaft (mit etwa halb so viel Personal) ebenfalls in Ausland begleiten und schickte zwei bis drei Einsendungen aus Israel oder Steinbach bei Baden-Baden den Redaktionsstuben zu. Die Ausführungen beschränkten sich auf ein Paar oberflächliche Fakten zum Lagerleben und allfällige Kurzberichte von Trainingsspielen. Bei den Camps in Nathanya musste ich die Zeilen in Tel Aviv von der staatlichen Zensur abstempeln lassen, bevor ich sie am andern Ende der Stadt auf der Post zur Telex-Übermittlung abgeben konnte. Beim dritten Mal gastierten wir in einem Kibbuz mit Hotelbetrieb. Dort gab es einen privaten Telex und niemand fragte mehr nach einem Stempel. Die Vorbereitung im Ausland fand jeweils im Februar statt und wer aus Israel mal eine Telefonverbindung in die Heimat hatte, wurde sogleich von Teamkollegen bedrängt: “Hat es noch Schnee in St.Gallen?“. Im Januar hätte man diese Frage erst gar nicht stellen müssen, und die Meisterschaft begann erst im März.
Zwischen Shopping und sexy Clips
Die Winterpause hat sich dank der Klimaveränderung – diese soll auch Vorteile haben – ebenfalls verkürzt, und in Verbindung mit dem elektronischen Fortschritt durfte ich in den Tiroler Bergen unvermutetes Neuland betreten: Nach dem Skifahren konnte ich vom Hotelbett aus den FC St.Gallen in der fernen Türkei im Einsatz sehen. Der deutsche Sender Sport 1 übertrug das Testspiel gegen Kaiserslautern (früher noch schlicht Trainingsspiel) live. Die Niederlage trug allerdings nicht dazu bei, die Happy Hour mit Kaffee und Kuchen zu versüssen. Aber auffallend war eine gewisse spielerische Leichtigkeit des FC St.Gallen gegenüber dem Gegner, die aber zu einer matchentscheidenden Überheblichkeit führte. Wie sich bei solchen Übertragungen der Aufwand für die Fernsehstation rechnet, weiss ich nicht. Aufgrund des TV-Programms eignen sie sich vor allem dafür, die Zeit zwischen Tele-Shopping und sexy Clips zu füllen.
Fantreue aus Langeweile?
Mehr als ein Pausenfüller war für mich der Besuch des Bundesligaspiels VfB Stuttgart gegen Borussia Mönchengladbach am vergangenen Samstag. Von meinem hohen Sitz der Haupttribüne (es muss nicht immer die Gegentribüne sein) war deutlich zu erkennen, welche tragende Rolle Granit Xhaka als Angriffsauslöser in Favres Team inzwischen einnimmt, auch beim entscheidenden Treffer zum 1:0-Sieg. Aufgefallen ist auch die riesige Präsenz der Gästefans. Immerhin liegt Mönchengladbach mindestens doppelt so weit von Stuttgart entfernt als St.Gallen. Der mich begleitende Kollege klärte auf: Gladbachs Team werde generell von so vielen Fans in Auswärtsspielen unterstützt wie kaum ein anderes. Mein erster Gedanke: Vielleicht bietet die Stadt Mönchengladbach nicht so viele spannende Alternativen, um daheim zu bleiben. Mein zweiter Gedanke: Das trifft bestimmt nicht zu. Dann wäre ja auch in der Stadt St.Gallen nicht viel los…
Von Zürich bis Basel
Am nächsten Samstag bewegt sich die Masse der FC-Anhänger bloss in den Westen der Stadt, zum Heimspiel gegen den FC Zürich. St.Gallen war in den vergangenen Jahren nicht gerade als Schnellstarter bekannt. Und Planungssicherheit im Kader ist nur so viel Wert, wie sie auf dem Rasen umgesetzt werden kann. Wie beim Klimawandel weiss man auch hier nicht so genau, in welche Richtung die Leistungskurve zeigen wird. Ich bin mal zuversichtlich und rechne damit, dass sich der FC St.Gallen im Gegensatz zum vergangenen Frühling Richtung Tabellenspitze aufmacht. Die Liga-Verantwortlichen sind da der gleichen Meinung. Sie haben die letzte Runde auf Freitag, 29. Mai, angesetzt, mit dem Spiel Basel gegen St.Gallen im St.Jakob-Park. Das wird eine würdige Finalissima. Mit der Pokalübergabe an den FC St.Gallen.
Vielleicht.
Leser-Kommentare:
1 Beitrag
ktanner
(02. Februar 2015, 15:42)
Sicher ist……
….dass Sie, Herr Kurth, wieder einmal einen witzigen, interessanten Bericht geschrieben haben.
Ich glaube, seit Ihrer Pensionierung werden diese immer besser, Gratulation aus Zürich.
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