Die Freilassung Gustl Mollaths aus der Psychiatrie ist ein Geschenk für die wahlkämpfende CSU. Der Opposition ist wieder ein Mobilisierungsthema abhanden gekommen.
© Peter Kneffel/dpa

Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer
“Den einen erwischt eine Grippe, den anderen die Justiz”, lässt Lion Feuchtwanger sein Alter Ego, den Schriftsteller Jacques Tüverlin, sagen. Und in Bayern sei diese Seuche besonders verbreitet. Feuchtwangers berühmter Roman Erfolg, dem diese Sätze entnommen sind, ist eine einzige, bittere Abrechnung mit der bayerischen Justiz zu Zeiten der Weimarer Republik, als Menschen, die sich nicht der reaktionären Weltsicht der konservativ-klerikalen Landesregierung fügen wollten, mithilfe von Recht und Gesetz diszipliniert wurden.
Nun sind das heutige Bayern und die bayerische Justiz des 21. Jahrhunderts nicht vergleichbar mit jenen finsteren Jahren, als in der “bayerischen Hochebene”, so nannte Feuchtwanger liebevoll-despektierlich seine Heimat, das braune Monster ausgebrütet wurde.
Trotzdem gibt es diesen schlimmen Verdacht: Kann es in einem demokratischen Rechtsstaat auch heute noch möglich sein, dass ein Mensch sieben Jahre zu Unrecht in einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt festgehalten wird? Ein Mann, dem Gemeingefährlichkeit attestiert wird, weil er seine Frau misshandelt und Reifen zerstochen haben soll. Der sich selbst als Opfer eines Komplotts sieht, weil er auf Schwarzgeldgeschäfte in Millionenhöhe hingewiesen habe, die er seiner Frau und weiteren Mitarbeitern einer Großbank zur Last legte? Dessen Fall auch dann nicht überprüft wird, als sich die Vorwürfe zumindest teilweise als zutreffend erweisen. Dessen Verfahren auch dann nicht wieder aufgerollt wird, als ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss gravierende Ermittlungs- und Verfahrensfehler der Finanzbehörden und des Landgerichts Nürnberg-Fürth zutage fördert. Sollte hier also ein unbequemer Geist als Querulant mit den Mitteln von Justiz und Psychiatrie zum Schweigen gebracht werden? Ein unerträglicher Gedanke.
Für die CSU, die bei der Landtagswahl im September die Alleinherrschaft in Bayern zurückerobern will, war der Fall Gustl Mollath äußerst unangenehm. Seit Monaten beherrscht er die Medien. Es gab öffentliche Demonstrationen, Dutzende von Anfragen und Eingaben im Landtag, und einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss, der erst im Juli zu dem Ergebnis gekommen war, dass die Justizministerin Beate Merk Details vertuscht, die Staatsanwaltschaft einseitig ermittelt und das zuständige Gericht “haarsträubend” gearbeitet habe. Noch vor zwei Wochen hatte das Landgericht Regensburg Anträge zur Wiederaufnahme des Mollath-Prozesses mit kühlem Verweis auf Formalia abgelehnt. Am Dienstag nun ordnete das Oberlandesgericht Nürnberg endlich die Wiederaufnahme an. Fast überstürzt wurde Mollath aus dem Bezirkskrankenhaus Bayreuth entlassen. Nun muss eine andere Kammer des Landgerichts Regensburg den Fall neu verhandeln.
Durchsetzt vom Geist der CSU
Für die Opposition war der “bayerische Justizalptraum”, so SPD-Spitzenkandidat Christian Ude, ein willkommenes Thema, auch wenn man immer wieder beteuerte, mit Mollaths Schicksal keinen Wahlkampf machen zu wollen. Aber gab es nun endlich einen Fall, an dem man exemplarisch aufzeigen konnte, was es bedeutet, wenn ein Land mehr als ein halbes Jahrhundert von ein und derselben Partei regiert wird. Die bayerische Justiz gilt zwar als professionell und effizient, doch wird niemand ernsthaft bestreiten können, dass sie von ganz unten bis ganz oben durchdrungen ist vom konservativen Geist der CSU. Hier bedarf es im Zweifelsfall nicht des Winks von oben, um Dinge in die gewünschte Richtung zu lenken, weil ohnehin im herrschenden Sinne gehandelt wird. Und der heißt immer noch: Härte und Repression sind besser als zu große Nachsicht.
Darüber hinaus ist die bayerische Justiz von einem Elitebewusstsein geprägt, dass es schwer macht, eigene Fehler zu erkennen und gegebenenfalls zu korrigieren. Der von der CSU geschaffene Mythos von Bayern als dem besten aller Bundesländer darf nicht ins Wanken geraten: Bayern hat die beste Verwaltung, die beste Justiz, die besten Schulen und Hochschulen, die besten Unternehmen, das beste Bier und den schönsten Himmel. Punkt.
Wahlkampfzeiten sind besondere Zeiten
Trotzdem bewirkte der massive öffentliche Druck, dass die CSU im Wahljahr den Fall langsam aber sicher zu fürchten begann. Sogar Beate Merk zeigte sich zuletzt zerknirscht und brachte einen Wiederaufnahmeantrag wegen Befangenheit eines Richters auf den Weg. In einem bemerkenswerten Interview mit Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung räumte Merk Fehler ein und versprach Maßnahmen, die mögliche Fehleinweisungen in die Psychiatrie künftig verhindern sollen.
Als der Druck auf sie und die CSU noch nicht so groß war, hatte sie mit markigen Bekenntnissen zur Unfehlbarkeit ihrer Richter und Staatsanwälte und zu Mollaths angeblicher Gemeingefährlichkeit nicht gespart. Dann wurde es Ministerpräsident Horst Seehofer offenbar zu viel, nicht zuletzt, weil Merk auch in der Verwandtenaffäre im bayerischen Landtag – zahlreiche Abgeordnete, darunter auch Kabinettsmitglieder, hatten auf zweifelhafter Rechtsgrundlage Familienangehörige auf Staatskosten für sich arbeiten lassen – keine gute Figur gemacht hatte. Wären keine Wahlkampfzeiten, Merk hätte wohl gehen müssen.
Dass rund sechs Wochen vor der Wahl die Richter doch noch ein Einsehen hatten und Mollath auf freien Fuß setzten, dürfte die CSU mit Wohlgefallen zur Kenntnis genommen haben. Er sei zufrieden, dass die Justiz nun “sehr zeitnah” entschieden habe, sagte Seehofer. Jetzt müsse “ein faires und objektives Wiederaufnahmeverfahren gewährleistet werden”. Schöner kann man ein Geständnis nicht formulieren.
Der Opposition ist allerdings abermals ein Wahlkampfthema abhanden gekommen. Ohne das beständige Memento des in der Psychiatrie einsitzenden Gustl Mollath dürfte die Angelegenheit rasch in der Versenkung verschwinden. Und wenn Seehofers Partei trotz aller Volten und Pannen wieder das Rennen macht, wird auch in Zukunft kein frischer Wind durch die bayerische Justiz wehen. “Am Ende könnte es zwei Gewinner geben”, sagte Seehofer dann noch. “Das eine ist ein fairer Rechtsstaat, das andere ist die Person Gustl Mollath.” Ob sich Mollath, dessen Haus zwangsversteigert, dessen Hab und Gut offenbar vernichtet wurde, als Gewinner fühlt, darf bezweifelt werden. Eine andere Gewinnerin steht schon fest: die CSU.
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