Die Ereignisse der vergangenen Tage sind auch an André Breitenreiter nicht spurlos vorübergegangen. Das gab der Trainer des FC Schalke 04 ungewöhnlich offen zu Protokoll. Auch er sei am Dienstag in Hannover auf dem Weg ins Stadion gewesen, als Fußball-Lehrer und „als Familienvater mit meinem Sohn und meiner Frau“. Als die Familie von der Absage des Länderspiels Deutschland gegen die Niederlande erfuhr, hat sie sich so schnell wie möglich auf den Weg nach Hause gemacht. „Mein Sohn hat geweint, weil er Angst hatte“, sagt Breitenreiter senior. „In Hannover ist zwar nichts passiert, trotzdem war das Erlebnis für uns schockierend.“
Die Heimreise ins Ruhrgebiet hat der Trainer bewältigt. Schwieriger wird die Rückkehr in den (Bundesliga-)Alltag. Spätestens seit den Terroranschlägen von Paris sei „jedem bewusst, dass es jeden jederzeit und überall treffen kann“, sagt Breitenreiter. Einerseits habe er volles Vertrauen in die Sicherheitsbehörden, andererseits bleibt „ein mulmiges Gefühl, weil man sich im Moment nirgendwo wirklich sicher fühlen kann“.
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Die Arbeitsabläufe im Training sieht Breitenreiter allerdings nicht gestört. Seine Mannschaft bereite sich professionell auf das Bundesliga-Heimspiel an diesem Samstag gegen den FC Bayern München (18.30 Uhr/ live in Sky und F.A.Z.-Liveticker) vor. „Angst hat keiner bei uns, weil keiner paranoid ist“, sagt er. Auch Leroy Sané sei voll bei der Sache. Der Neunzehnjährige hatte am Freitag in Paris sein erstes A-Länderspiel bestritten und anschließend gemeinsam mit den übrigen Nationalspielern aus Sicherheitsgründen im Stadion übernachten müssen.
Im Gespräch mit dem Stürmer habe er den Eindruck gewonnen, dass Sané die Erlebnisse von Paris „komplett verarbeitet hat“ und in seinem Leistungsvermögen nicht beeinträchtigt sei, sagt Breitenreiter. Dieser Befund hatte sich schon wenige Tage nach der Rückkehr aus Frankreich angedeutet. Beim EM-Qualifikationsspiel der deutschen „U21“ trug Sané gemeinsam mit seinen Vereinskollegen Leon Goretzka und Max Meyer ganz wesentlich zum Sieg über Österreich bei.
Die erste Mannschaft sein, die dem Spitzenreiter der Saison eine Niederlage beibringt
Der ansehnliche Auftritt der drei hochbegabten Jungprofis bot Breitenreiter die Gelegenheit, auf das Sportliche überzuleiten. „Diese Jungs machen einfach Freude, das ist auch eine tolle Bestätigung für uns alle.“ Breitenreiter weiß alle möglichen Gelegenheiten zu nutzen, seinen Anteil am Erfolg hervorzuheben und Lob für seine Spieler mit Eigenlob zu verbinden, mal mehr, mal weniger subtil. In diesem Fall klang das so: „Das sind auch Trainingsinhalte von uns, wo wir sehr viel individuell mit ihnen trainiert haben, das sind Automatismen, die anfangen zu greifen, das macht uns alle stolz.“ Mit dem Hinweis auf die gute Form seiner Jungstars versucht Breitenreiter vermutlich auch, den Eindruck zu verwässern, bei einer Partie wie an diesem Samstagabend gegen Bayern München handele es sich um ein „Bonusspiel“ abseits der allgemeinen Bewertungskriterien.
Inzwischen bringt er sogar den Mut auf auszusprechen, es gehe darum, die erste deutsche Mannschaft zu sein, die dem Spitzenreiter in dieser Saison eine Niederlage beibringt. Dieser Anspruch wäre schon unter normalen Bedingungen die größte anzunehmende Herausforderung für Schalke. Das gilt nicht nur, weil die Bayern in der Bundesliga übermächtig erscheinen, sondern auch, weil Schalke in dieser Saison (fast) alle Spiele gegen Spitzenmannschaften verloren hat: gegen Wolfsburg, zweimal gegen Gladbach, dann gegen Dortmund; nur gegen Hertha BSC, den Überraschungskandidaten im ersten Drittel, gelang ein schmeichelhafter Heimsieg.
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Breitenreiter möchte die gute Leistungen seiner Jungstars nutzen und auch den passablen Auftritt beim Derby in Dortmund.
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Breitenreiter möchte die gute Leistungen seiner Jungstars nutzen und auch den passablen Auftritt beim Derby in Dortmund.
Solche Ergebnisse, verbunden mit Punktverlusten gegen die Aufsteiger Darmstadt und Ingolstadt, machen Breitenreiter grundsätzlich vorsichtig. Niemand dürfe zu viel erwarten. Der Kader sei zu klein, die Effektivität von Stürmern wie Huntelaar, Di Santo und Choupo-Moting zu gering, um in der Liga allzu große Sprünge zu machen, sagt der Trainer. Also dürfe er ja wohl sagen, dass Schalke gegen Bayern Außenseiter ist, ohne dafür wieder zerfetzt zu werden.
Darf er. Andererseits scheint Breitenreiter zu spüren, dass es auf Dauer nicht reichen wird, sich darauf zurückzuziehen, die Stimmung in der Mannschaft und um sie herum verbessert zu haben. Also nutzt er die guten Leistungen seiner Jungstars und den passablen Auftritt beim Derby in Dortmund dazu, sich weiter vorzuwagen. Das erscheint gerade vor dem Spiel gegen Bayern geboten. Als Trainer des SC Paderborn hatte Breitenreiter keine Gelegenheit ausgelassen hervorzuheben, was er dort mit dem Aufstieg in die Bundesliga Außergewöhnliches vollbracht habe.
Nach dem 0:6 gegen die Bayern aber verstieg er sich zu einer im Profigeschäft unüblichen Aussage, die er inzwischen selbst als „unglücklich“ bezeichnet. Er dankte dem Rekordmeister und dessen Trainer Pep Guardiola für „das tolle Erlebnis“, angeblich um deutlich zu machen, wie großartig es für Paderborn war, überhaupt in einem Meisterschaftsspiel gegen die Münchner antreten zu dürfen.
Wer Breitenreiter jüngst mit diesen Aussagen konfrontierte, sah sich vehementem Widerspruch ausgesetzt. In dieser Sache erfuhr Breitenreiter sogar Unterstützung von Manager Horst Heldt, der mit dem Trainer mittlerweile ein Zweckbündnis unterhält, in dieser Sache aber ein wenig theatralisch forderte, es müsse Schluss damit sein, Geschichten aus der Vergangenheit hervorzukramen. Den Unterschied zwischen Paderborn und Schalke haben die beiden jedenfalls trefflich herausgearbeitet. In Gelsenkirchen ist es selbstverständlich, zweimal pro Saison gegen den FC Bayern zu spielen, ohne sich dafür zu bedanken.
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