Nie wieder zurück nach Cleveland

Er war US-Soldat, doch er wollte nicht ein zweites Mal in den Irak: Andr Shepherd tauchte in Bayern unter. Nun will er, was es in Deutschland noch nicht gibt: Asyl fr einen Deserteur der US-Army.

PATRICK GUYTON | 16.01.2014

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Andr Shepherd in seiner neuen Heimat im Chiemgau (links). Zwei Apache-Kampfhubschrauber whrend eines Patrouillenfluges ber der irakischen Hauptstadt Bagdad. Fotos: Patrick Guyton/afp

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Ein junger Mann lebt in Cleveland (US-Bundesstaat Ohio) im Auto. Er ist Mitte 20, hat sein Informatik-Studium fast fertig. Ein Semester fehlt noch bis zum Abschluss, aber er hat kein Geld mehr. Die Eltern sind nicht reich, sie mssen auch noch die drei Geschwister untersttzen. Er hangelt sich von einem Billigjob zum nchsten. Doch arbeiten, studieren und zudem im Auto leben, schlafen, lernen – das geht nicht gut. Und so unterschreibt Andr Shepherd am 27. Januar 2004 im Alter von 27 Jahren einen Vertrag beim Rekrutierungsbro der US-Army. “Das war der grte Fehler meines Lebens.”

Heute ffnet Shepherd das Tor eines alten Bauernhauses in Grassau im Chiemgau, es sind nur ein paar Kilometer zum See. Auf dem Schild am Eingang steht “Knigreich Bayern”. Shepherd, der groe schwarze US-Amerikaner, lacht gleich zu Beginn und sagt: “Willkommen in meiner Heimat.” In seiner Zwei-Zimmer-Wohnung ist er eher sprlich eingerichtet, aber er trgt einen groen Sack voll Lebensgeschichte mit sich. Es ist die Geschichte des ersten US-Deserteurs berhaupt, der versucht, in Deutschland Asyl zu erhalten. Seit mehr als fnf Jahren luft der Fall, ein Ende ist nicht absehbar. Denn die Angelegenheit ist kompliziert und ziemlich heikel, weil sie das Verhltnis zu den USA betrifft.

Warum hat sich Andr Shepherd ausgerechnet das Chiemgau ausgesucht als Lebensort mit seiner konservativen bayerischen Bevlkerung? “Ich habe viele Freunde aus dieser Gegend kennengelernt”, sagt er. “Sie haben immer zu mir gehalten.” Doch davon spter mehr.

Der neu rekrutierte Mann wird noch in den USA zum Techniker fr Apache-Kampfhubschrauber ausgebildet. “Mir waren beim Eintritt in die Army zwei Sachen wichtig”, erinnert er sich, “die Krankenversicherung und die Ausbildung.” Er glaubt dem Rekrutierungsoffizier in Cleveland, dass es unter den US-Soldaten im Irak kaum Verluste gebe, dass die Bevlkerung sie dort wie Helden empfange. “Ich war damals kein politischer Mensch.” Doch die Armee erweist sich nicht als Truppe von patriotischen Kmpfern. “Es war eine Armee der armen Schlucker.”

Nach einem Zwischenstopp in Deutschland, in der Kaserne Katterbach in der Nhe von Nrnberg, geht es fr sechs Monate in den Irak. ber den Einsatz redet Shepherd im Stakkato, ohne Pause, und atmet schneller. Als er am Einsatzort in der Nhe von Tikrit auf normale Iraker trifft, sehen diese ihn ngstlich und auch wtend an. “Die Leute hatten nichts zu essen, sie wurden terrorisiert.” Das Techniker-Team arbeitet stndig an den Apache-Kampfhubschraubern, um sie einsatzfhig zu halten. “Die Piloten durften nichts ber ihre Flge sagen.” Informationen kursieren ber Geheimmissionen, tote Soldaten und tote irakische Zivilisten. “Die Zweifel wurden immer grer”, erinnert sich Andr Shepherd, “ich hatte stndig Magenschmerzen.”

Dann kommt heraus, dass der eigentliche Kriegsgrund nie existiert hat – die irakischen Massenvernichtungswaffen. Alle fragen ihre Vorgesetzten: “Wann gehen wir wieder nach Hause?” Die Eltern in Cleveland sind stolz auf ihn.

Heute arbeitet er in Deutschland als Informatiker fr einen kleinen Internetdienstleister. Er hat einen normalen Vertrag und bekommt normales Gehalt, muss viel reisen. “Mir fehlt vor allem die Zeit”, sagt er. Denn neben diesem fast normalen Leben hat er auch sein Asylverfahren mit vielen tausend Seiten an Dokumenten, mit Antrgen, Widersprchen, Erklrungen.

Das Bundesamt fr Migration hatte 2011 seinen Asylantrag abgelehnt. Shepherd fhrte darin aus, dass er sich nicht weiter an einem vlkerrechtswidrigen Angriffskrieg beteiligen knne. Er berief sich auf eine Richtlinie der Europischen Union. Die Behrde entgegnete, dass er als Apache-Techniker nie unmittelbar an die Front geraten sei und dass die Vereinten Nationen mit ihrer Resolution 1546 den US-Einsatz von Juni 2004 an als Aufbau der Nachkriegsordnung gebilligt haben – also bevor Shepherd in das Land entsandt worden war. Keine Entscheidung wollte man Anfang 2013 beim Verwaltungsgericht Mnchen treffen. Nun liegt der Fall in Luxemburg beim Europischen Gerichtshof. Shepherd und sein auf Asylrecht spezialisierter Anwalt Reinhard Marx aus Frankfurt rechnen damit, dass der Deserteur Ende dieses Jahres angehrt wird.

In Katterbach, zurck vom Krieg, besteht die Hoffnung, dass die Apaches nicht mehr so schnell eingesetzt werden mssen. Andr Shepherd geht viel raus aus der Kaserne, lernt Deutsche kennen, die zu Freunden werden. Dieter zum Beispiel, der aus dem Chiemgau kommt. Doch der zweite Einsatzbefehl fr den Irak lsst nicht lange auf sich warten. Er redet viel mit den deutschen Freunden, mit den anderen US-Soldaten geht das kaum. “Es war fr mich wie eine Therapie”, sagt er. Fr den 11. April sind sie verabredet, es ist das Jahr 2007. “Ich wusste: Wenn ich gehe, dann gebe ich die USA auf, Cleveland, meine Heimat.” Shepherd packt in der Kaserne ein paar Klamotten ein, nimmt seinen Armeeausweis mit und eine Dartscheibe. Beim Erzhlen lacht er wieder: “Meinen US-Pass habe ich vergessen.” Er geht durch das Haupttor nach drauen, steigt ins Auto der Freunde.

Dann ist er weg.

Mittagszeit, sollen wir essen gehen? “Gern”, sagt Andr Shepherd und fragt: “McDonalds oder Burger King?” Er entscheidet sich fr McDonalds. Hier ist es laut, hier kann er ganz zwanglos reden, er fllt als Schwarzer nicht auf. Und vielleicht fhlt er sich hier ein bisschen wie in Cleveland.

19 Monate lang lebt er untergetaucht, als Deserteur, als Illegaler im Chiemgau. Zum Beispiel beim Dieter und seiner Familie. “Dort htte man mich nie finden knnen”, sagt Shepherd. Es muss so ungefhr im letzten Haus des letzten kleinen Dorfes gewesen sein. “Ich habe geputzt, im Haushalt und im Garten geholfen.” Einige Monate war er auch beim “Bcker”, wie alle den Michael nennen, weil er Bcker ist. “Das war fr mich selbstverstndlich, dass wir ihn aufnehmen”, erinnert sich der Bcker. Er erzhlt, wie seine kleinen Kinder Shepherd immer wieder lange aus ihren Bilderbchern vorgelesen haben. “Da hat er Deutsch gelernt.” Kam Shepherd denn den Nachbarn, den Menschen im Dorf nie komisch vor? Ist da niemand einmal zum Rathaus oder zur Polizei gegangen wegen des unbekannten schwarzen Mannes? Da sagt der Bcker einen denkwrdigen Satz: “Hier auf dem Dorf hlt man zusammen.” Wenn bei ihm einer wohne, dann sei das in Ordnung, und zwar fr alle. Viele kannten die Geschichte des schwarzen Mannes.

Shepherd wei nicht, ob die Army nach im sucht, ob sie seine Desertion der deutschen Polizei gemeldet hat. Bei zwei Polizeikontrollen zckt er seinen Armeeausweis und bleibt unbehelligt. Deserteure werden von den US-Kriegsgerichten hart bestraft, meist mit einigen Jahren Gefngnis. Zehntausende US-Soldaten desertierten whrend des Irak-Krieges, meist gingen sie nach Kanada, wo sie geduldet werden. Einer ist im Chiemgau.

Als es Andr Shepherd in der Illegalitt nicht mehr aushlt, geht er zum Landratsamt nach Rosenheim. Er erzhlt seine Geschichte und fragt, was er machen kann. Die Mitarbeiter reagieren unglubig. Sie sind nicht zustndig, sie holen aber auch nicht die Polizei. Ein Mann von der Behrde sagt: “Endlich hat das mal einer von denen gemacht.” Am 26. November 2008 stellt er Antrag auf politisches Asyl.

“Bernau, Prien, Seebruck” – Shepherd zhlt die Orte am Chiemsee auf, die er mag, wo er Freunde hat. Sein Deutsch ist ziemlich gut, doch auf Englisch kann er sich prziser ausdrcken. Er mchte bald einmal Schloss Neuschwanstein besuchen. Da kauft er sich dann Postkarten und verschickt sie mit dem Satz: “Das ist mein neues Haus in Deutschland.” Shepherd lacht wieder. Es ist, als will er auch eine Trauer weglachen. Was wnscht er sich fr die Zukunft? “Eine nette Frau, Kinder, einfach ein normales Leben.”

20 000 auf der Flucht

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