
Addie kommt von der Uni nach Hause, besucht erst ihren Freund Sam, dann fährt sie zu ihren Eltern. Es ist Winter, im Licht der Autoscheinwerfer sieht sie eine Gestalt mit einem Cockerspaniel über die verschneite Straße gehen. Es ist ihre Mutter, aber Addie steigt nicht gleich aus, sondern beobachtet die Szene noch einen Augenblick: “Ich dachte an meine Mutter, die ihre Runden in der Vorstadt drehte, während ich in düsteren Studentenverbindungen trank, mich mit Sam auf Video unterhielt oder träge in meinem Wohnheim schlief, während es draußen schneite. Im selben Moment liebte ich sie auf eine Weise, die mir den Magen zusammenzog.”
Einfühlsame Neugier auf die Welt
Es sind Szenen wie diese aus der Erzählung “Winterferien”, die den Texten von Marina Keegan ihre ganz eigene Atmosphäre geben. Keegan schreibt lakonisch und lebensnah über die widerstreitenden Empfindungen und Zustände der Zwanzigjährigen von heute: über die ganz großen Gefühle und einen abgeklärten Pragmatismus, über Weltschmerz, Euphorie und Tatendrang, über Verunsicherung und Selbstgewissheit, über die Liebe, die Einsamkeit und das Glück in der Gruppe, über ein Leben, in dem ein Projekt das andere jagt und über das Privileg der Jugend, noch alle Zeit der Welt zu haben.
Die Eltern sind für diese Generation nicht zuerst Adressaten der Rebellion, sondern Objekte liebevoller Melancholie, führen sie doch vor Augen, wie das Leben eben so spielen und was aus all den hochfliegenden Plänen, die man selbst gerade schmiedet, so werden kann. Und Marina Keegan kann sich auch in Figuren, die nicht ihre Altersgenossen wären, erstaunlich gut einfühlen. Das zeigt sich etwas in der Geschichte “Sei gegrüßt, du Begnadete”. Sie erzählt von einer Frau in mittleren Jahren, die ein Kind adoptiert – und sich daran erinnert, wie sie selbst in ihrem letzten Collegejahr eines zur Adoption freigegeben hatte.
Die Kraft der Passion, die Brutalität des Todes
2012 machte Marina Keegan, geboren 1989 in Boston, ihr Examen in Yale. Ihre Abschlussrede feierte das Zusammengehörigkeitsgefühl der Uni-Jahre, “dieses schwer fassbare, undefinierbare Gegenteil von Einsamkeit”. Und sie war ein flammendes Plädoyer dafür, sich die Zukunft offen zu halten, die eigenen Ideale und Passionen nicht aufzugeben – auch nicht für die verlockend hohen Gehälter, die Consultingfirmen und Banken den Absolventen der Elite-Universitäten anbieten.
“Das Gegenteil von Einsamkeit”
“Wir dürfen nicht vergessen, dass uns immer noch alles offensteht. Wir können es uns anders überlegen. Von vorn anfangen. Ein Masterstudium machen oder es mit dem Schreiben probieren. Die Vorstellung, dass es für etwas zu spät ist, erscheint mir komisch. Zum Totlachen. Wir sind mit dem College fertig. Wir sind so jung. Wir können, wir dürfen dieses Gefühl der Möglichkeit nicht verlieren, denn letztlich ist es alles, was wir haben.
[…] Wir haben kein Wort für das Gegenteil von Einsamkeit, aber wenn es eins gäbe, würde ich sagen, genau so fühle ich mich in Yale. […]
Wir vom Abschlussjahr 2012 ziehen alle an einem Strang. Bewegen wir etwas in der Welt.”
aus: Marina Keegan, “Das Gegenteil von Einsamkeit. Stories und Essays”, aus dem Amerikanischen von Brigitte Jakobeit, S. Fischer Verlag 2015
Doch genau dieses “Gefühl der Möglichkeit”, das Marina Keegan in ihrer Person so sehr verkörperte und dem ihre Texte so leidenschaftlich auf der Spur waren, wurde jäh abgeschnitten: Wenige Tage nach ihrem Abschluss in Yale verunglückte Keegan bei einem Verkehrsunfall tödlich. Marinas Rede, in der Campus-Zeitung veröffentlicht, erschien auch im Internet – und wurde von Millionen angeklickt. In den Augen ihrer Eltern sollte das aber nicht alles gewesen sein, was von ihrer Tochter, die schon an der Uni mit Stories und Theaterstücken auf sich aufmerksam gemacht und für die Zeit danach bereits einen Job beim New Yorker hatte, für ein größeres Publikum zu lesen bliebe. Auf ihre Initiative und mit Hilfe von Freunden stellte Anne Fadiman, eine ehemalige Dozentin Keegans, Texte der Autorin für ein Buch zusammen.
“Marina würde nicht wollen, dass man sich an sie erinnert, weil sie tot ist. Sie würde wollen, dass man sich an sie erinnert, weil sie gut ist.”
Anne Fadiman in der Einleitung zum Keegan-Band
Ein starker Selbstentwurf als Schriftstellerin
Neben der titelgebenden Abschlussrede sind darin neun Erzählungen und acht Essays enthalten. In den USA wurde der Band ein Bestseller. Natürlich lässt sich diese Rezeption nicht vom tragischen Tod einer sehr jungen Autorin trennen, die eine unbändige Neugier auf das Leben antrieb, und natürlich sind Keegans Arbeiten nicht alle von gleicher Qualität. Doch sie sind weit mehr als Talentproben. Ein Versprechen auf die Zukunft können sie nicht mehr abgeben, sicher ist aber wohl, dass Marina Keegan eine Zukunft als Autorin gehabt hätte. Genau das jedenfalls hatte sie sich selbst vorgenommen – mit der ihr eigenen Verve: “Ich habe beschlossen, Schriftstellerin zu werden. Und zwar eine richtige. Mit Haut und Haar.”
Diwan
Für den Diwan hat Katharina Altemeier “Das Gegenteil von Einsamkeit” von Marina Keegan gelesen. Zu hören ist ihre Besprechung des Bandes in der Sendung am Samstag, den 11. Juli ab 14.05 Uhr (Wiederholung 21.05 Uhr) auf Bayern 2.
