Von Henning Kunz
MAINZ – Seine Reibeisenstimme ist so rau, dass er damit den kompletten Holzbestand sämtlicher Mainzer Baumärkte glatt schmirgeln könnte. Oder einmal als Imitator des berühmten Louis Armstrong durchgehen würde. Doch um „What a wonderful World“ anzustimmen, hätte mindestens das Mainzer Fußballwunder eintreten müssen. Dann, ja dann, eventuell…
Mit heiserer Stimme sagt Thomas Tuchel, der Fußballtrainer von Mainz 05: „Ich passe.“ Und verrät auch, warum er diesmal auf eine ausführliche Nachlese in kleiner Runde verzichtet: „Ich habe im Vorfeld so viel über dieses Spiel und mögliche Szenarien geredet. Ich habe das Gefühl, es ist tausendfach hoch und runter erzählt worden. Heute lassen wir einfach mal die Leistung sprechen.“
Ribéry: „Oh là là, Mayence!“
Wer nun wissen will, wie gut die Leistung der Mainzer gegen die beste Fußball-Mannschaft der Welt war, der erkundigt sich bei den Angestellten des FC Bayern und wird erfahren, dass sie schon lange nicht mehr so einen ungemütlichen Bundesliga-Nachmittag erlebt haben wie diesen. „Oh là là“, sagt Franck Ribéry, Europas Fußballer des Jahres, „Mayence est une équipe très difficile.“ Thomas Müller kann sich nicht erinnern, jemals „ein leichtes Auswärtsspiel in Mainz erlebt zu haben – und das ist als Kompliment zu verstehen“. Dass es am Ende für die die Ständig-Sieger aus dem Süden zum 2:0, zum 18. Dreier in Serie, gereicht hat, war keine weltbewegende Sensation, aber mit Blick auf den Spielverlauf keine Selbstverständlichkeit.
Um das Unmögliche möglich zu machen, „haben wir unser Herz in die Hand genommen und sind mit viel Mut, viel Überzeugung und viel Aufwand die Aufgabe angegangen“ (Tuchel). Die größte fußballerische Herausforderung der Gegenwart. Der Mainzer Trainer hatte ein kilometerfressendes Pressingmonster von der Leine gelassen, das phasenweise mit sieben mutigen Männern die Münchner in deren Hälfte attackierte. Die Freude, immer wieder anzurennen, zu stören und die ballsicherste Mannschaft der Erde zu Ballverlusten zu zwingen, sprudelte aus den 05ern nur so heraus. Manchmal erschraken die unerschütterlichen Überflieger so sehr, dass sie den Ball lieber in die Walachei droschen, statt von der wilden roten Welle überrollt zu werden. Unglaublich, dass es das noch gibt. „Das Pressing war extrem aggressiv“, fand Thomas Müller, „und wir sind schließlich auch nur Menschen.“
Dass das auch auf das Pressingbiest zutraf, offenbarte sich spätestens in der Pause. „Wir waren schon ganz schön groggy und am Pumpen“, sagte Christoph Moritz, „und uns war klar, dass wir das nicht 90 Minuten durchhalten können.“ Eine laufintensive Verteidigungsleistung, die manchen Ultramarathoni erblassen ließ. „Es wäre wünschenswert gewesen, dass wir eine Belohnung in Form eines Führungstreffers dafür bekommen“, sagte Tuchel. Hätte Eric Maxim Choupo-Moting 42 Sekunden nach Wiederbeginn das Erdgeschoss getroffen statt den Übergang zum ersten Stock, wäre das Spielgerät nicht an die Latte des Bayern-Gehäuses gekracht. „Es gibt wenig, was wir uns vorwerfen können. Was wir abliefern wollten, haben wir reingegeben“, sagte Tuchel und baute seine fleißigen Schützlinge auf: „Es gibt keinen Grund, niedergeschlagen zu sein.“
Nun ja, so gänzlich konnten sie die Enttäuschung nicht ausknipsen. Wer 82 Minuten lang kein Tor gegen die Super-Bayern zulässt (und das ist in dieser Saison bislang keinem Gegner, nicht mal den Premier-League-Topklubs Manchester City und Arsenal London gelungen), der will am Ende nicht nur sagen: „Ja, toll, dass wir 82 Minuten zu null gespielt haben.“ Dann schon lieber: ganz oder gar nicht. „Das ist schon bitter“, sagte 05-Keeper Loris Karius, der sich in den vergangenen vier Heimspielen nur über ein Gegentor ärgern musste, diesmal binnen fünf Minuten deren zwei eingeschenkt bekam – von Bastian Schweinsteiger (82.) und Mario Götze (86.). Da hatten sie die lange gesuchten Lücken in der Fünfer-Abwehrkette (ab der 60. Minute) gefunden. Da hatten die 05er kurz den Überblick (und den in den Strafraum sprintenden Schweinsteiger aus den Augen) verloren. Was ja kein Wunder sei, wenn man halb im Delirium über den Rasen renne und sich nach einem Sauerstoffzelt sehne. „Mit Puls 218 kriegst du halt nicht mehr so viel Vernünftiges hin“, sagte Christoph Moritz. Die letzten Meter auf den Mount Everest sind besonders steil. Zu steil.
Bis dahin, fand Tuchel, „war es eine absolut bemerkenswerte Energieleistung“. Von seinen Spielern und seiner Stimme. „Die hat schon die ganze Woche gelitten“, verriet der Trainer: „Zu viele Video-Analysen.“ Das Video der Mainzer Verteidigungsleistung wiederum dürfte als Blaupause für die nächsten Bayern-Gegner gelten.