Eigentlich sollte es sie längst nicht mehr geben, die historische Scheune mit dem prächtigen Holzgebälk. Vernichtet, verrottet, vergessen. Und in gewisser Weise stimmt das auch. Der Bau existiert nicht, zumindest nicht amtlich, im Grundbuch. Doch das ist bloß Papier.
Die Scheune aber, gebaut aus zähen Holzplanken und mächtigem Naturstein, gibt es noch immer. Die Jahreszahl 1863, fein ausgesägt, ist deutlich auf der hölzernen Frontseite zu erkennen.
Dabei sollte das Gebäude schon vor gut 50 Jahren abgerissen werden, so wollte es der damalige Besitzer. Das war irgendwo bei Wasserburg, genau lässt sich das nicht mehr rekonstruieren, weil das Gebäude, Wohnhaus samt Scheune, danach kilometerweit durch den Landkreis Rosenheim gekarrt worden ist. Bis nach Albaching, der Heimat eines gewissen Handwerkers namens Platzer.
Der nämlich hatte den Auftrag für den Abriss bekommen – was für den Verlauf der Geschichte von entscheidender Bedeutung ist: Platzer-Hütte hieß das Gebäude in Albaching, hatte es doch der Platzer vor der Zerstörung und in die Gegenwart gerettet. Diese Rolle könnte nun, für die Zukunft, Alv Kintscher übernehmen.
Mann mit Mission
Der Schreinermeister aus Sachsenkam, der wegen seines markant urwüchsigen Stils als einer der spannendsten Interieur-Designer Bayerns gilt, hat große Pläne für das bauhistorisch wertvolle Gebäude.
Wenn Kintscher über die Scheune spricht, spiegelt seine ehrfurchtsvollere Wortwahl, was er darin sieht: eine Alm. Die Platzer-Alm. Die möchte Kintscher an anderer Stelle wiederbeleben, ob als exklusives Wohnhaus, Hotel oder Showroom.
Für seine Ideen sucht er gerade ein passendes Grundstück sowie einen Bauherren, den die Alm ebenso begeistert wie ihn, seitdem er sie zufällig entdeckt hat. “Als ich sie das erste Mal sah, war es um mich geschehen”, sagt Kintscher. Das “architektonische Schmuckstück” sorge bei ihm immer wieder für “Gänsehaut”. Da ist er nicht der Erste.
So ähnlich muss es auch Platzer gegangen sein, dem ersten Retter und Handwerker wie Kintscher, damals Anfang der 60er-Jahre. Ob ihm angesichts des eigentlich der Zerstörung geweihten Hauses ebenfalls ein euphorischer Schauer befiel, das ist nicht überliefert, aber immerhin brachte er es nicht übers Herz, den schönen Bau auftragsgemäß abzureißen.
“Von Anfang an”, sagt Kintscher, “hat mich auch diese irre Geschichte in den Bann gezogen.” Eine Art bayerische Heimat-Soap. Ist alles dabei: Freundschaft, Tod, Neubeginn. Sogar auch, nur anders als in dem Genre sonst üblich: Liebe und Schönheit. Diesmal eben mit einem stolzen alten Gebäude in der Hauptrolle.
Entscheidung im Wirtshaus
Dessen Schicksal entschied sich, wie so oft in Bayern, im Wirtshaus. Dort traf der Platzer damals seinen Spezl und schwärmte: von dem 100 Jahre alten Bau, viel zu schade, um ihn abzureißen. Von der schönen alten Handwerkskunst – allein das Kreuzgebinde! Von seinem Traum, den Sommer in dem Haus zu verbringen.
Es war wohl so, wie Kintscher heute vermutet: “Platzer hatte sich in das Anwesen verliebt.”
Zufällig besaß der Spezl genug Grund und Boden in Albaching, um dem Platzer ein Freundschaftsangebot zu machen, sinngemäß etwa: “Schieb die Hütte doch einfach bei mir drauf.”
Also wurde sie mit Traktoren und Baumstämmen über die Wiesen und Felder gezogen, quer durch die sanft hügelige oberbayerische Landschaft, und in Albaching wieder aufgestellt. Für den Umzug wurde der Blockbau mit dem Wohnhaus nicht mal auseinandergenommen. “Das hat für viel Aufsehen gesorgt”, sagt Kintscher.
Doch wenige Wochen später starb Platzers Spezl – bevor aus dem im Wirtshaus ausgekartelten Deal ein richtiger Vertrag, geschweige denn ein amtlicher Grundbuch-Eintrag werden konnte.
Unterm Radar der Behörden
Da stand sie nun jahrzehntelang, die Alm – ungenutzt und außerhalb des Radars der Behörden, die sie nie, wie in dem Alter sonst üblich, unter Denkmalschutz stellten. Wusste ja außerhalb Albachings kaum einer, dass es sie gab.
Mitten in einem Voralpenidyll. Drumherum sattes Grün, ein Weiher daneben und ein freier Panoramablick in die Ferne, zu den Chiemgauer Alpen: Hochries und Kampenwand sind von hier aus zu sehen, Hochgern, Hochfelln, ganz am Bildrand der Wendelstein.
Doch dann gab es Streit und den üblichen Ärger, weil die Dorfjugend die Hütte für Partys nutzte. Die Nachfahren der Retter von einst beschlossen: Die Alm muss weg. So landete sie im Internet, wurde als Immobilie zum Verkauf angeboten.
Auftritt: Alv Kintscher. An einem “verregneten Sonntagnachmittag” – die genauen Wetterverhältnisse sind ein lapidares, womöglich unwichtiges Detail in Kintschers Erinnerung. Aber doch ein schönes Indiz dafür, wie sehr sich dem Schreiner der Moment eingeprägt hat, als er im Netz über die Anzeige mit den Fotos wie über eine Schatzkarte gestolpert ist.
“Was für ein Juwel”, habe er da bereits gedacht, erinnert sich der 48-Jährige. “Meine Liebe zur Natur, zu Tradition und alten Materialien hat mich sofort mit der Alm verbunden.”
Wie Lego-Steine auseinandergebaut
Die Begeisterung wurde noch größer, als Kintscher die gut 80 Kilometer gen Norden fuhr, von Sachsenkam nach Albaching. Und den Holzbau auf einem Sockel aus Stein erblickte.
Drinnen, in der Scheune, blinzelte das Sonnenlicht durch die Ritzen zwischen den Brettern. Mit den grünen Fensterläden und dem gedrechselten Balkongeländer strahlte der Wohntrakt eine heimelige Gemütlichkeit aus.
Kintscher begeisterte sich für die “wunderschönen Proportionen und die tolle alte Bausubstanz”, kaufte das Haus und ließ es, Stück für Stück, abbauen. Ungefähr so, wie Kinder ihre Bauwerke aus Lego-Steinen auseinander montieren, wenn sie die Klötze dringend für etwas Neues brauchen.
Nur dass in diesem Fall vier Männer im vorigen Frühjahr drei Wochen lang damit beschäftigt waren, den alten Bau in seine Einzelteile zu zerlegen, jedes Stück zu nummerieren und zu katalogisieren.
Aus diesem laut Kintscher “Kulturgut mit ganz viel Potenztial” will dieser etwas Neues entstehen lassen. Nicht in Albaching, der Ort hat sich in seiner Heimatzeitung längst wehmütig davon verabschiedet: “Eine Sehenswürdigkeit ist verloren gegangen.”
Berghütte zur See
Irgendwo anders, wo, ist eigentlich egal. Vielleicht nicht gerade in, sagen wir, Düsseldorf – das ist Kintscher zu abwegig.
Im Alpenraum will er das Gebäude wieder aufbauen. Authentisch, und doch luxuriös: Außen soll die historische Bausubstanz “zelebriert”, innen exklusives Wohnen auf einer Fläche von bis zu 300 Quadratmeter möglich werden. “Das kann nur etwas Besonderes werden”, sagt der Gestalter, “es gibt nichts Vergleichbares.”
Nun muss man wissen, dass sich Alv Kintschers Planungsbüro bereits mit ausgefallenen Projekten einen Namen gemacht hat. Willy Bogner beispielsweise ist ein großer Fan von Kintschers kernig-elegantem Stil. Den Hof des Modeunternehmers am Tegernsee haben Kintscher und sein Team umgebaut, Bogners Laden in Rottach-Egern ebenso.
Der begeisterte Segler Kintscher hat für einen Münchner Unternehmensberater auch schon mal eine Luxusyacht im Stil einer Berghütte gestaltet – und wurde für sein Konzept aus Schiefer, Holz und Filz bei der Hamburger Hansebootsmesse ausgezeichnet sowie in Cannes mit dem renommierten Yacht-Design-Preis.
Und jetzt also die Alm. Gut verpackt lagern deren Blockwände, der Rest in Hunderte Einzelteile zerlegt, derzeit noch in der Nähe von Kintschers Werkstatt in Sachsenkam.
Kein Denkmalschutz – Gott sei dank!
Wenn man ihn dort besucht, sprudeln die Einfälle nur so aus ihm heraus. Was man mit der Alm alles anstellen könnte! In gewisser Weise hat er ja – mal abgesehen von der Bauverordnung – Narrenfreiheit, da kein Denkmalschutz ihm Einhalt gebietet.
Und so hat er auch ein paar ziemlich unorthodoxe Ideen. Wie wäre es zum Beispiel mit einem Bach, der im Garten verläuft, dann mitten durchs Haus fließt, im Wellness-Bereich als Tauchbecken genutzt wird, und auf der anderen Seite wieder ins Freie plätschert. Klingt verrückt? Sei aber technisch machbar, sagt Kintscher.
Man könnte außerdem, überlegt er, zwischen Scheunen- und Blockbau ein meterlanges Glasstück einfügen, dazu eine Galerie – “dann würde man von der Badewanne aus direkt in die Sterne gucken”.
Normalerweise ist es in einer Alm ja eher dunkel, der kleinen Fenster wegen. Lichtdurchflutet soll diese werden. Aber auch kuschelig, für ein urig-behagliches Ambiente sorgen die alten Balken. “Von alten Strukturen umgeben und trotzdem modern”, lautet Kintschers Konzept.
Lagerfeuer-Atmosphäre mitten im Wohnzimmer, noch so eine Idee: durch ein nach allen Seiten offenes Kaminfeuer, statt einer gemauerten Sitzfläche gäbe es bei Kintscher einen groben, aber bequemen Steinblock. “Für eine zeitgemäße Architektur muss man den Alm-Gedanken weiterspinnen.” Mit natürlichen Materialien: Holz, Stein, Stahl, ungewöhnlich und frech kombiniert.
Bayerische Gemütlichkeit im Hier und Jetzt
Das ist inzwischen zu seinem Markenzeichen geworden, er nennt seinen Stil “Modern Nature” und sieht sich damit, so kühn seine Ideen auch sein mögen, fest in der bayerischen Tradition verwurzelt. Doch die bayerische Gemütlichkeit müsse ins Heute übersetzt werden, sagt der 48-Jährige.
Die Schreinerei in Sachsenkam hat er von seinem Vater übernommen, der baute hier einst Bauernmöbel. Mit zwölf stand Kintscher zum ersten Mal an der Kreissäge, besserte sich als Gymnasiast sein Taschengeld mit Schnitzereien auf.
Doch war er weit davon entfernt, den Vater zu kopieren – “das moderne Bayern funktioniert nicht mit einer geschnitzten Jodelstube”. Sein Stil ist rauer, erdiger, wirkt trotzdem edel. Inspirationen findet er draußen in der Natur, überhaupt: in der Heimat.
“Was verbindet jeder mit Bayern?”, fragt Kintscher und gibt in seinem Büro gleich selbst eine Antwort. Dort nämlich steht ein Schrank, die Ablage ist aus Schiefer, die Schiebetüren sind mit Filz bezogen. Oder sein Schreibtisch: Eine grobe Holzplatte wird getragen von einer mächtigen, wild gewundenen Baumwurzel.
Die Wurzel, beim Joggen im Wald entdeckt, ist auch so einer von Kintschers Zufallsfunden. Manchmal ist gar eine ganze Alm dabei.