Letzter Ausweg infantiler Kreationismus – FAZ

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07. November 2012, 21:39
Uhr

Entschuldigen Sie bitte mein Schweigen
während der letzten 10 Tage
, aber für den Fall, dass die Mormonen
und Tea Party Anhänger die Weltherrschaft übernehmen, musste ich
die Bibliothek einmauern, meine englischen Silberteekannen vergraben
und die Gutscheine für den FKK-Club aufbrauchen.

Im Norden hat man gern ein
verschrobenes Bild von Bayern; so in etwa ein hoch gelegenes Tal, wo
alle katholisch sind, CSU wählen, Schriftlichkeit für neumodisches
Zeug halten und durch Inzest degeneriert sind. Tatsächlich gibt es
so eine weitgehend abgeschlossene und durch die Erbfolgen auf Höfen
genetisch begrenzte Region, von der man die Anekdote erzählt, bei
jeder Wahl hätte es im Tal einen gegeben, der die Sozen wählte. Man
hatte auch einen Verdacht, man sonderte den fraglichen Kerl aus und
sprach schlecht über ihn. Seine Kinder wurden gehänselt, und in der
Wirtschaft musste er alleine sitzen.

Dann starb er.

Und noch immer wählte einer SPD.

(Um den Witz zu verstehen, muss man
vermutlich aus Bayern kommen. Oder  aus der bergigen Grenzregion zwischen Fulda und Pakisatn.)

Diese Region, aus der der Witz stammt, liegt am Rande des
Isartals, noch hinter Bad Tölz, und heisst „Jachenau” Ich kenne
welche, die von dort stammen. Sie sind katholisch, wählen CSU, sind
aber alle hochintelligent, „g’scheid”, wie man in Bayern sagt,
kulturbeflissen, sehr sportlich und teilweise so sagenhaft schön,
dass die Sache mit der Degeneration nicht ganz stimmen kann. Darunter
sind auch die wirklich fanatischen Opernbesucher in meiner
Bekanntschaft. Man kann beim besten Willen nichts Schlechtes über
die Menschen aus der Jachenau sagen. Sie sind halt konservativ,
gläubig und traditionsbewusst. Auch nach drei Generationen
Auswilderung in München geben sie die besten Zweckehepartner ab, und
wenn sie sich, zu Geld gekommen, dann wieder in die Berge ziehen und
Bücher und CDs kaufen, fahren sie nach Bad Tölz an der Isar, in die
zwischen Trachtenläden eingepferchte Buchhandlung, in die ich, vom
Tegernsee kommend, auch gehe.

Man sollte nicht meinen, dass diese
Buchhandlung dann, sagen wir mal, halbnackerte Frauen aus
Ostdeutschland verkaufen kann, die nicht nur tätowiert sind, sondern
auch knallrote Haare haben, überkanditelt schreien, eine Perücke
tragen und unkeusch eingeschnürt sind, und über dem Essen ein
ganznackertes Photomodell begehren. Aber doch, das geht, sagt die
Buchhändlerin, das verkauft sich wie frische Semmeln. Die CD, die
ich sehe, ist die letzte, sie bestellt gerade nach, die Leute hier
lieben Simone Kermes und ihre CD Dramma. Ich mag sie auch. Aber ich
bin auch derjenige, der zuletzt in Gmund am Tegernsee die
Maoisten/Leninisten gewählt was wollte ich sagen ach so, jedenfalls
haben auch Bewohner einer Region, die Wolfratshausen schon für einen
überfremdeten Sündenpfuhl halten, überhaupt kein Problem damit, so
eine wie die Kermes in ihren finsteren Bergtälern erschallen zu
lassen. Und retro mit aufgedruckten Schallplattenrillen ist die CD
auch.

Und dann sitzen sie unter dem funkenden
Sternenzelt, draussen bimmelt eine Kuhglocke, und Simone Kermes singt
ihnen etwas von Begierden und Leidenschaften. Vielleicht erinnert
sich noch jemand an die grauen Vorzeiten, als diese Käuferschicht
Platten mit dem titanenhaften Gesicht von Karajan kaufte, die
Schwarzkopf sang und Barockmusik in wohltemperierten Zeitlupe
aufgeführt wurde… man kann das heute vielleicht noch aus
historischem Interesse hören, aber die öffentlich-reaktionäre
Meinung der Opernfreunde will es barock, laut, schnell und wenn nicht
die Kermes, dann bitt’schön die Invernizzi oder wer da sonst noch
vom gleichen Kaliber wie ein Rockstar den Konzertsaal erschüttert.

Den Weg von Frau Schwarzkopf zu Frau
Kermes kann man natürlich ganz schrecklich finden, oder, um es mit
einem Wort aus der Feuilletondebatte zu sagen, „infantil”: Was
müssen sich gesetzte Herren in Bad Tölz auch mit so einer Frau
schmücken, die auch Jugendkulturen von Body Mods über Fetisch bis
Food Porn bedient. Kann nicht die Musik für sich alleine stehen?
Muss diese Vermarktung unbedingt sein? Nein, kann man da nur
antworten, natürlich muss das nicht sein. Und den geschätzten
Kulturpessimisten noch die Empfehlung mitgeben, auf dem Weg zur Isar
hinunter besser nicht in die Trachtengeschäfte zu schauen, denn was
dort dem reaktionären Käufer angeboten wird, ist auch eher so die
Simone-Kermes-Version von Bergbekleidung. Im besten Fall. In den
schlimmeren Fällen neigt man als Bewahrer des Alten dann an der Isar
dazu, in dieselbe zu gehen. Dann muss man sich auch keine Gedanken
darüber machen, ob all die Damen des Oberlandes mit
Männertrachtenmänteln und gross beschleiften Jägerhüten, die sich
dieses Jahr zu Allerheiligen wieder prächtig vermehrt hatten, nicht
etwa als alpin-queer und cross-dressing zu beschreiben sind. So weit
ist es sogar auf den Friedhöfen des Oberlandes gekommen.

Ich persönlich denke, die Sache mit
der „Infantilisierung” stellt sich den Betroffenen ganz anders
dar: Es führt einfach kein Weg zurück in die Epoche, als Adenauer
Kanzler war, die Redakteure Krawatten zu tragen hatten, Jeans in der
Arbeit undenkbar waren und Karajan stilbildend wirkte. Damals gab es
so etwas wie eine reaktionäre Lebenswelt, man konnte sich darauf
verlassen, dass die Regeln in den eigenen Kreisen immer und überall
respektiert wurden. Heute dagegen ist „konservativ” mit etwas
Pech eine verkorkste Promenadenmischung von Vorfahren wie Jan
Fleischhauer, Erika Steinbach, Gabor Steingart, Martin Walser und dem
Ehepaar Sarrazin: Freudlos, uncharmant, gehässig und auch sonst ganz
der nicht stubenreine Köter, den der Politikbetrieb der Mitte an der
Autobahnraststätte Richtung grüne Zukunft und mediterrane Küche
ausgesetzt hat. Dieser Talkshow-Konservativismus von Aufsteigern,
diese marktgängige Krawallattitüde, das alles ist pures Gift für
die gelassene Selbstverständlichkeit, in der echte Reaktionäre ihr
Vermögen geniessen möchten. Man weiss, die alten Zeiten kommen
nicht mehr, und man ist auch von den niederen Hilfstruppen und ihren
lauten Rückzugsgefechten angewidert. Man muss allein irgendwie das
Alte mit dem Neuen in Einklang bringen. Und deshalb lieben alle
Simone Kermes. Mit ihr kann man reaktionär und ganz vorne dran sein.

Und man liebt jede Menge anderer
Angebote, die Brücken bauen. Der geneigte Leser muss dazu nur einmal
meinen Lieblingskonditor in Gmund besuchen, der beherrscht das
perfekt: Genau die richtige Mischung aus Bergromantik, Süsse und
Handwerkskunst, die man hier kaufen und im kalten, unromantischen
Frankfurt verschenken kann. Reaktionäre Erbtanten der Gegenwart sind
längst nicht mehr so doof, dass sie anrufen und fragen, ob die
Grossnichte auch brav ihr Mettwurstbrot verzehrt. Selbstverständlich
sind die neuen Lebkuchenvariationen für kein Fünferl traditionell,
und sprechen jetzt im November dem Brauchtum Hohn. Da ist man halt
über die Generationen hinweg kindisch, denn so ein liebevolles
Packerl funktioniert. Immer. Es ist nicht infantil, es ist einfach
der Anschluss an den Rest der Gesellschaft, die man mit den
gesammelten Werken Karajans oder einer Blechdose voller
Supermarktlebkuchen nicht mehr erreicht. Es ist Bewahrung der
Tradition mit menschlichem Antlitz. Der Konditor, der das macht, ist
für die CSU im Gemeinderat.

Und gerade an Tagen wie heute sollte es
einem auch bewusst sein: Andere Möglichkeiten gibt es nicht. Es gibt
in Deutschland keine Basis mehr für eine Bewegung wie die Tea Party
in den USA, die eigentlich nichts anderes macht, als jene Werte zu
vertreten, die in Deutschland vor 40, in Bayern vor 20 und in Fulda
und Afghanistan bis in 50 Jahren die konservative Normalität
darstellen. In Tegernsee besuchen mehr Menschen das Bräustüberl als
die daneben liegende Kirche, Scheidungen, Abtreibungen und Sex vor
der Ehe führen selbst bei uns nicht mehr zu einer gesellschaftlichen
Stigmatisierung. Will man nicht wie ein Angehöriger des Berliner
Kreises, ein Vertriebenenfunktionär, ein Leser der Welt oder ein
Mitarbeiter von Kreuz.net wirken, muss man neue Formen der Koexistenz
und schonenden Beeinflussung finden. Will man das Bestehende retten
und erhalten, muss man nett und kinderfreundlich sein, vielleicht
sogar selbstironisch und selbstkritisch, und keinesfalls so
dogmatisch und unbelehrbar wie die Tea Party oder die
Bundesfamilienministerin. Die Menschen nämlich haben überhaupt
nichts gegen vorgestrige Besitzstandswahrung und traditionelle
Unterjochung, wenn sie mit Süssigkeiten, grossen Kinderaugen,
Pferdeumzügen, Sissiromantik und sauberer Luft daherkommen. Das ist
nicht kindisch. Das ist Überleben in der Epoche der
Bedeutungslosigkeit.

Veröffentlicht
07. November 2012, 21:39
von
Don Alphonso

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