Stuttgart/Berlin – Am Donnerstag, dem 9. November 1989, um 20.15 Uhr war klar, dass Stefan Reuter vom FC Bayern München für den gesperrten Klaus Augenthaler als Ersatzlibero gegen den VfB Stuttgart antreten würde. Anfang der Woche hat ihn sein Trainer Jupp Heynckes, wohl in der Absicht, den Stuttgarter Kollegen Arie Haan zu irritieren, als verletzt gemeldet. Das letzte taktische Geheimnis vor dem Achtelfinale des DFB-Pokals ist somit gelüftet.
67 750 Zuschauer im ausverkauften Stuttgarter Neckarstadion warten auf den Beginn des sogenannten Süd-Gipfels. Warum aber pfeift Schiedsrichter Dellwing aus Osburg das verdammte Spiel nicht an? Um 20.15 Uhr, pünktlich nach der „Tagesschau“ und rechtzeitig für die ARD-Übertragung, müsste die Partie beginnen. Neben mir im Stadion sitzt der Kollege Reiner Schloz aus der Sportredaktion und wird nervös. Wenn jetzt etwas schiefläuft, schafft er seinen Bericht über das Schlagerspiel zwischen dem VfB und den Bayern nicht mehr bis zum Redaktionsschluss. Dann gute Nacht.
Auf der Tribüne spricht sich herum, die „Tagesschau“ habe ihre Sendezeit überzogen. Vermutlich wieder was im Osten. Gibt es jeden Tag in diesen Wochen. Als unerwartet Grenzen fallen, Botschaften Wildfremden ihre Türen öffnen. Das Spiel wird mit Verspätung angepfiffen, und wenig später erscheinen einem die Lücken in der Bayern-Abwehr größer als die Schlupflöcher an den CSSR-Grenzen. Fünf Minuten vor der Halbzeit erzielt der Stürmer Fritz Walter per Kopf das 1:0 für den VfB. „Ein Traumtor“, notiert Kollege Schloz.
Ein unglaubliches Gerücht verbreitet sich im Neckarstadion
12,07 Millionen Zuschauer verfolgen das Pokalspiel am Fernseher, als sich im Neckarstadion seltsame Dinge abspielen. Irgendwann erheben sich Menschen von ihren Plätzen und beginnen zu brüllen, als hätte ein Bayer dem VfB-Spielmacher Asgeir Sigurvinsson das Bein gebrochen.
Es dauert noch bis zur 64. Minute, ehe Jürgen Hartmann mit seinem Treffer zum 2:0 die Bayern endgültig erledigt. In der Zwischenzeit hat sich ein Gerücht verbreitet, das so unglaublich klingt, dass man es glauben muss. Am Abend des 9. November 1989, als der VfB Stuttgart zum einzigen Mal in seiner Geschichte im DFB-Pokal den FC Bayern bezwingen kann, fällt die Berliner Mauer.
Am anderen Morgen bin ich in Berlin, hab’ den letzten freien Platz des ersten Flugzeugs erwischt. Im Stadtteil Steglitz finde ich eine Bude, ein Mitglied der Stuttgarter Kickers ist Hotelchef und räumt mir ein Zimmer frei. Berlins Hotels sind an diesem Tag nicht unbedingt für schwäbische Sensationstouristen reserviert. Die Stadt steht vor der größten Völkerwanderung ihrer Geschichte.
Als ich meine Reiseschreibmaschine abgestellt habe, rufe ich einen Bekannten an, Peter Rommel, einen Stuttgarter VfB-Fan, der sein Glück im Filmgeschäft versucht. In Kreuzberg hat er vor kurzem einen Kino-Verleih gegründet, eine auf Ost-Produktionen spezialisierte Klitsche. Irgendwann sitze ich in seinem klapprigen Volvo. Fast unmöglich, vorwärts zu kommen. Seit einigen Stunden heißt der Ort, den der Schriftsteller Peter Schneider „die siamesische Stadt“ genannt hat, „Janz-Berlin“.
Freitag, 10. November. Chaos in der City. Der Ku’damm ist der größte Trampelpfad der Welt. Peter Rommel hat am Abend zuvor das Spiel zwischen dem VfB und den Bayern im Fernsehen verfolgt und erst relativ spät die Ereignisse draußen registriert. Wir fahren in den Grunewald, zur berühmten Glienicker Brücke. Am Abend wird sich womöglich das Mondlicht in der Havel spiegeln, wie in den filmreifen Nächten, als hier Schlapphüte aus Ost und West ihre Spione ausgetauscht haben.
Die Polizisten tauschen die Mützen
Zuvor sind wir in einem andern Film, es ist die unheimliche Begegnung der deutschen Art. Kolonnen von Karnevalsjecken aus Potsdam fahren mit abenteuerlich aufgerüsteten Trabis und Fahrrädern über die Brücke, schwenken Narrenkappen. Hüben werden sie von jubelnden Wessis empfangen. Musik setzt ein, die erste Jam-Session DDR/BRD: Fäuste trommeln auf die Autodächer, Freudengesänge, Bravos.
Vor der Brücke arbeiten Ost-Vopos und West-Polizisten Hand in Hand. Das frisch vereinte Volk, von Party-Regisseuren der Westberliner Kneipen- und Spontiszene dirigiert, fordert in Sprechchören „Mützentausch“. Die Beamten ziehen brav ihre Kappen. Vor dem Tag, an dem der „antifaschistische Schutzwall“ (DDR-Jargon) fiel, hatten Polizisten beider Staaten bestenfalls bei besonders schlimmen Mordfällen kooperiert, und stets streng geheim.
Jetzt ist überall in der Stadt Katastrophenhilfe angesagt. Hunderttausende im Kapitalismus unerfahrene Ossis sind zur Shopping-Tour des Jahrhunderts aufgebrochen: einmal Ku’damm und zurück. Wir ziehen mit, das heißt: wir werden mitgeschleppt. Es gibt kein Entrinnen. Man ringt um Atem. Der scharfe Smog der Trabi-Zweitakter legt sich über die Stadt. Die Berliner Luft stinkt zum Himmel.
In den U-Bahn-Schächten spielen sich unglaubliche Szenen ab. Wer niemals zuvor klaustrophobische Attacken hatte, spürt sie jetzt. Ich schwitze in einer Menschenschlange, die sich im Glauben vorwärts schiebt, irgendwo da vorne befände sich eine geöffnete Tür. Die aber gibt es nicht.
Anarchie hat zum Glück eigene Gesetze. Die Menschen organisieren sich im Chaos selbst. Jeder kommt hier lebend raus. West-Berliner Sicherheitsbeamte lassen dem Wahnsinn freien Lauf, spielen defensiv. Polizisten geben Tipps, keine Befehle. Busfahrer halten einfach dort, wo die Fahrgäste es wünschen.
Checkpoint Charlie hat seinen Schrecken verloren
Die Nacht zum Samstag, 11. November. Wir gehen zur Mauer. Der Checkpoint Charlie, Berlins berüchtigtster Grenzübergang, hat seinen Schrecken verloren. Man nennt ihn jetzt „Champagner Charlie“. Korken knallen. Nur das Mauer-Museum davor erinnert in diesen Stunden an die Szenen von Flucht und Scheitern.
Der Tanz auf dem Zaun. Unzählige Male werden wir diese Bilder später im Fernsehen sehen. Die Mauer, das monströse Stadtmöbel, das „Abbild der Moderne: grauer Beton“, wie die amerikanische Schriftstellerin Joyce Carol Oates geschrieben hat, diese Mauer ist 28 Jahre nach ihrem Bau Weltbühne für Geschichte live. Oben steigt eine Party, die uns unten schwindlig macht. Gänsehaut, Angst, dass vor unseren Augen Menschen herunterstürzen, sich das Genick brechen könnten. Nichts passiert. Wir erleben ein ausschweifendes Festival der Freude.
Im Innern der Stadt spielen sich ganz andere Szenen ab. Ich erinnere mich an eine schweigend vor sich hin stapfende Masse, an verwirrte Menschen vor den Schaufenstern des Westens. Männer, die Sexshops belagern: deutsche-deutsche Vereinigungsszenen bei Beate Uhse. Und die ersten Geschäftemacher sind schon unterwegs, darunter die Typen, die Steine aus der Mauer schlagen und gegen Bares verkloppen. Man nennt sie „Mauerspechte“, erste Vorboten der alarmierten Immobilienhaie.
Fast zehn Jahre später, Februar 1999. Bei den Berliner Filmfestspielen entdecke ich auf einem Plakat den Namen Peter Rommel. Er hat sich zum Produzenten hochgearbeitet, gerade „Nachtgestalten“, eine Episodengeschichte über Berliner Verlierer, fürs Kino realisiert. Ich rufe ihn an und sage: „Was fällt dir spontan zum Fall der Mauer ein?“ – „Wir waren auf der Glienicker Brücke“, sagt er, „und der VfB hat gegen die Bayern verloren.“
Typischer Fall von Mauer im Kopf. In Wahrheit hat Fritz Walter noch das 3:0 geschossen.