Interview : "Mein Rücktritt war für mich eine Befreiung"

Interview “Mein Rücktritt war für mich eine Befreiung”

Philipp Lahm über den Wert von Niederlagen, Blut auf dem Platz und verlockende Schokoriegel

Bitte übertragen Sie den Code in das folgende Feld

24.08.14, 02:00

Interview

Philipp Lahm über den Wert von Niederlagen, Blut auf dem Platz und verlockende Schokoriegel

Von
Martin Scholz und Julien Wolff

Öffentliches Training beim FC Bayern, Hunderte Fans säumen das Spielfeld an der Säbener Straße, dem Hauptquartier des Klubs in München. Es ist mehr los als sonst. Diesmal wollen sie nicht nur Stars, sondern Weltmeister sehen. Einer davon hat sich kürzlich selbst als Kapitän der DFB-Auswahl abgesetzt: Philipp Lahm. Wir treffen einen sehr lässigen Weltmeister: blaues T-Shirt, Sommerhose, Turnschuhe. Am Ende des Gesprächs verrät Lahm, was ihn während der WM in Brasilien wirklich gefesselt – und auch geerdet hat: ein Regionalkrimi des bayerischen Autoren Harry Kämmerer. “Pressing” heißt er und schildert, wie ein Inspektor in der Allianz-Arena ermittelt. Ein Fußball-Star ist dort vor 70.000 Fans tot zusammengebrochen. “Ich mag diese Krimis sehr”, schwärmt Lahm, “ich kenne die Straßen darin, kann den Krimi auf diese Weise nachvollziehen. Und ein bisschen geht’s ja auch um Fußball.” Thriller dahoam. Er lacht. “Gott sei Dank habe ich noch zwei weitere Krimis von ihm, ich freue mich schon sehr darauf.”

Berliner Morgenpost:

Herr Lahm, Ihr erster Auftritt nach dem WM-Gewinn war beim Sommercamp für benachteiligte Kinder in München, das Ihre Stiftung jedes Jahr finanziert. Sie wollen darin Werte wie soziale Verantwortung, Fairness, aber auch gesunde Ernährung vermitteln. Ein Kind meinte, dass Nutella nun nicht gerade gesund sei – warum die Nationalmannschaft dafür Werbung mache. Wie haben Sie reagiert?

Philipp Lahm:

Ich konnte entspannt antworten, weil ja nicht ich selbst, sondern Kollegen aus der Nationalmannschaft dafür Werbung gemacht hatten. Kinder sind aufmerksam, solche Widersprüche fallen ihnen sofort auf. Das Mädchen war sehr direkt: Du willst uns was von gesunder Ernährung erzählen und machst Werbung für Schokocreme. Das passt doch nicht zusammen. Das wäre in der Tat nicht gut gewesen. Solche Situationen machen mir immer wieder klar, was es bedeutet, Vorbild zu sein. Ein anderes Kind fragte, ob ich auch Schokoriegel esse.

Und?

Ich habe ehrlich geantwortet. Ja klar, die schmecken mir schon, hab’ ich gesagt, ich esse nur nicht sechs Stück am Tag.

In Ihrem Sommercamp lernen Kinder auch mithilfe von Schaumstoffanzügen, wie es sich anfühlt, wenn man schwerfällig und alt ist. Haben Sie das schon mal probiert?

Ja. Man bekommt dazu noch eine dicke Brille aufgesetzt, durch die man schlechter sieht. Und Gelenkschienen, die den Bewegungsspielraum zusätzlich einschränken.

Wie kamen Sie sich als alter Mensch vor?

Das war schon seltsam, körperlich so eingeschränkt zu sein. Die einfachsten Bewegungen fallen dann plötzlich schwer. Für die Kinder ist diese Erfahrung ein Spaß, der trotzdem Eindruck hinterlässt. Sie sollen spielerisch lernen.

Wenn sich Prominente wie Sie mit einer eigenen Stiftung engagieren, werden Sie entweder a) als Gutmensch gescholten oder b) man mutmaßt, das sei vor allem ein Steuerabschreibungsmodell. Wie reagieren Sie auf solche Vorwürfe?

Ich ignoriere sie. Weil ich weiß, wofür und warum ich mich engagiere. Meine Stiftung gibt es seit 2007. Wir arbeiten sehr nachhaltig. In unseren Sommercamps waren bisher schon rund tausend Kinder. Ich würde das Konzept am liebsten flächendeckend in Deutschland anbieten. Darüber hinaus finanzieren wir zwei Projekte in Johannesburg und Kapstadt. In Johannesburg haben wir zwischen zwei Townships einen Fußballplatz gebaut, dazu eine Bibliothek eingerichtet. Ausgebildete Trainer kümmern sich um die Kinder, bieten täglich Trainings an und sind stabile Bezugspersonen. Wir wollen die Kinder von der Straße holen, ihnen über den Fußball Werte wie Fair Play, Zusammenhalt und Disziplin vermitteln.

Wie messen Sie, ob Sie damit Erfolg haben?

Wir geben nicht nur Geld dorthin. Jedes Jahr reist jemand aus unserer Stiftung dorthin, überprüft, was mit dem Geld gemacht wurde, wo es fehlt, was man besser machen kann. Ich bekomme regelmäßig die Berichte. Die Teilnehmerzahlen steigen stetig. Jedes Kind, das auch nur für die zwei Stunden Training eine Auszeit vom Township-Leben hat, ist für mich ein Erfolg.

Reden wir über Ihre Erfolge im Fußball. Die WM brach in Deutschland-Twitter-Rekorde, wurde mehr denn je in dieser digitalen Parallelwelt erlebt. Wie gehen Sie damit um?

Für mich als Spieler war es okay, wobei mich das eher weniger anspricht. Klar ist auch: Wenn ich privat beim Golfen bin, will ich nicht, dass mich ein Kollege fotografiert und das Bild dann postet. Außer, er fragt mich vorher. Bei uns in der Nationalelf war das alles im Rahmen – keiner musste sich in seiner Privatsphäre angegriffen fühlen. In den USA hat das längst andere Dimensionen erreicht: Was die Stars da auf Twitter posten, ist extrem. Ich bin froh, dass ich ein bisschen auf Facebook aktiv bin, mehr nicht. Facebook nutze ich als eine Art Homepage. Ich kann erzählen, was ich mache – ohne zu viel preiszugeben. Ich bin keiner, der jeden Tag postet, wo er gerade ist, und dauernd Fotos hochlädt. Das bin nicht ich.

Haben Sie sich in letzter Zeit mal gegoogelt?

Nein. Das mache ich eigentlich nicht.

In unserem letzten Interview vor etwa zweieinhalb Jahren sagten Sie, dass, wenn Sie sich googelten, an zweiter, spätestens an dritter Stelle das Begriffspaar Philipp Lahm …

… schwul genannt wird. Ich weiß.

Heute sind die ersten drei Suchvorschläge, die zu Ihrem Namen erscheinen: 1. Frau 2. Hells Angels 3. Kind.

Was soll ich dazu sagen? Vielleicht, dass andere Dinge wichtiger sind als ich selbst. Daran können Sie sehen, wie schnell sich das ändert: Offenbar interessieren sich die Menschen für meine Frau und unser Kind. Und die Sache mit den Hells Angels bezog sich wohl auf einen Satire-Artikel in irgendeinem Online-Portal.

Der behauptete, Sie seien Mitglied der Hells Angels. Konnten Sie darüber lachen?

Ich habe das durchaus amüsiert gelesen. Solange man weiß, dass es Satire ist, ist das halb so wild.

Ihr Rücktritt aus der Nationalmannschaft hat kürzlich auch die Online-Kommentarspalten überlaufen lassen. Sie haben sich mal als Fußball-Junkie bezeichnet. Haben Sie sich jetzt selbst auf Entzug gesetzt?

Ich bin immer noch ein Fußball-Junkie. Über meinen Rücktritt hatte ich mir ja schon vor einem Jahr Gedanken gemacht. Ich hätte so oder so aufgehört, auch ohne WM-Titel. Irgendwann ist so ein Kapitel zu Ende. Zehn Jahre sind lang. Es geht nicht nur um die 90 Minuten auf dem Feld. Als Kapitän hatte ich Verantwortung für das große Ganze. Das frisst Energie. Ich wollte mehr Zeit für meine Familie haben. Und ich wollte diese Entscheidung selbst treffen, vermeiden, dass es irgendwann heißt: Der Lahm könnte jetzt auch endlich mal aufhören! Als ich meinen Rücktritt bekannt gab, fühlte ich mich befreit.

Befreit? Von der Entscheidung, von der Last?

Von allem ein bisschen.

Ein Professor für Personalmanagement schrieb nach Ihrem Rücktritt in der Zeitung: Manager sollten wie Lahm denken: eigene Positionen hinterfragen und öfter Nein sagen. Haben Sie schon Angebote, als Motivationscoach für Führungskräfte anzutreten?

Ja, ich habe schon zwei Mal bei großen Firmen Vorträge über meine Karriere gehalten. Das hat mir Spaß gemacht.

Das ist schon was ganz anderes, als eine Ruckrede in der Kabine zu halten, oder?

Sicher, aber solche Vorträge vor Managern sind was Schönes. Ich spule da keine Nacherzählung meiner Karriere ab. Ich nutze das auch für mich und reflektiere, was ich gemacht habe. Man hat im Fußball fürs Nachdenken nicht viel Zeit. Sich mal zu fragen: Wie war das eigentlich in bestimmten Momenten? – das ist ein Gewinn. Weltmeister zu werden, war mein großer Traum. Aber ich habe auf dem Weg dorthin auch bittere Niederlagen erlebt. Wie bei dem EM-Finale 2008, als ich einen Fehler begangen habe und der Spanier Torres das Tor geschossen hat.

2012 war die Niederlage noch demütigender, als Ihnen im EM-Spiel gegen Italien Mario Balotelli davonlief. Dann zog er sein Trikot aus, zeigte seinen Muskelkörper. Haben Sie sich dieses Spiel je wieder angesehen?

Nicht bewusst. Ich habe dieses Tor nur per Zufall noch mal irgendwo gesehen. So was verdrängt man. Aber im Nachhinein sind solche Momente interessant und oft entscheidend. Niederlagen waren sehr wichtig für meine Karriere. Hätten wir mit dem FC Bayern 2012 nicht das Finale der Champions League im eigenen Stadion verloren, hätten wir ein Jahr später nicht das Triple gewonnen. Gerade diese Niederlage brachte Energie. Jeder wollte umso mehr. Als ich Bastian Schweinsteiger im WM-Finale von Rio vor mir sah, sah ich auch, dass er, wie ich, schon bittere Niederlagen hat einstecken müssen. Und dass er das diesmal mit allem, was er zu bieten hatte, verhindern wollte.

Wenn es in Rio nicht geklappt hätte, wären Schweinsteiger und Sie die Gesichter einer gescheiterten Fußballer-Generation gewesen. So hat er sich eine blutende Wunde zutackern lassen und weitergespielt.

Jetzt reduzieren das alle immer auf die Wunde. Ich spreche aber von seinem ganzen Auftritt. Man hat von der ersten bis zur letzten Minute gemerkt: Er will den Sieg. Unbedingt. Bei mir war das ähnlich – nur ohne das Blut.

Derzeit zahlt Schweinsteiger für seinen blutigen Einsatz im WM-Finale den Preis. Wegen Patellasehnen-Problemen kann er nicht mal trainieren. Machen Sie sich Sorgen?

Ich mache mir keine Sorgen. Er wird beim Saisonstart fehlen. Aber ich hoffe, dass er bald wieder einsteigen kann.

Bei der WM wurden zum Teil extrem brutale Fouls begangen. Neymar wurde in den Rücken getreten, Christoph Kramer ging nach einem Kopfschlag fast k. o. Ist das Spiel härter geworden? Oder kommt uns das nur so vor, weil wir in Superzeitlupen sehen, wie sich Köpfe und Gliedmaßen in einer Art verdrehen, die nicht zum Aushalten ist?

Das Spiel ist nicht härter geworden. Nur schneller. Wenn einer mal einen Tick zu spät kommt, kann es mal scheppern. Aber ich kenne auch schlimme Bilder von früher, von aufgeschlitzten Oberschenkeln.

Als Norbert Siegmann von Werder Bremen Ewald Lienen von Arminia Bielefeld 1981 mit einem Stollen den Oberschenkel aufschlitzte.

Es gab auch damals viele Verletzungen. Aber durch die ständige Wiederholung der Super-Slow-Motion wird es heute anders wahrgenommen. Wobei ich diese Bilder ja super finde.

Sie finden das super?

Natürlich nicht die Bilder der Verletzungen, sondern diese Zeitlupeneinstellung an sich. Weil man da genau sehen kann, wie sich jeder Muskel anspannt. Wie sich die Mimik dabei ändert. Das fasziniert mich – so sehe ich mich sonst ja nicht.

Sie haben mal gesagt, Fußball sei moderner Gladiatorenkampf. Haben Sie den Film “Der Gladiator” mal gesehen?

Ja klar.

Da gibt es diese Szene, in der die Gladiatoren im Tunnel zur Arena stehen, wo sie sich dann abschlachten – einer von ihnen pinkelt vor Angst in die Sandalen.

Ja, ich weiß. Wobei wir uns ja im Stadion nicht abschlachten (lacht). Aber es ist ein Kampf, ein Wettkampf. Bevor es losgeht, stehen wir tatsächlich im Gang wie früher die Gladiatoren.

Die Spieler haben die Einlaufkinder an der Hand. Was reden Sie eigentlich mit ihnen?

Es ist eher so, dass die Kinder mich etwas fragen. Wieso darfst du als Erster ins Stadion gehen? Oder Ähnliches. Manche Spieler sind sehr fokussiert und kaum ansprechbar, andere sehr locker.

Und Sie?

Ich bin so mittellocker.

Am 3. September tritt Deutschland in Düsseldorf zu einem Freundschaftsspiel gegen WM-Finalgegner Argentinien an. Erstmals ohne Sie als Kapitän. Wie werden Sie das erleben?

Ich bin im Stadion und werde verabschiedet. Das Spiel sehe ich mir von der Tribüne aus an. Und das darauf folgende EM-Qualifikationsspiel gegen Schottland wahrscheinlich zu Hause vom Sofa aus.

Mit Schokoriegel oder Chips?

Nee. Aber mit einem schönen, kühlen Bier (lacht).

This entry was posted in DE and tagged by News4Me. Bookmark the permalink.

About News4Me

Globe-informer on Argentinian, Bahraini, Bavarian, Bosnian, Briton, Cantonese, Catalan, Chilean, Congolese, Croat, Ethiopian, Finnish, Flemish, German, Hungarian, Icelandic, Indian, Irish, Israeli, Jordanian, Javanese, Kiwi, Kurd, Kurdish, Malawian, Malay, Malaysian, Mauritian, Mongolian, Mozambican, Nepali, Nigerian, Paki, Palestinian, Papuan, Senegalese, Sicilian, Singaporean, Slovenian, South African, Syrian, Tanzanian, Texan, Tibetan, Ukrainian, Valencian, Venetian, and Venezuelan news

Leave a Reply