Matthias Friese würde seit Samstag am liebsten die ganze Zeit auf sein Handy schauen. Doch ständig verpasst er Anrufe von seiner Frau oder kommt nicht dazu, Kurznachrichten seiner Tochter zu beantworten. Weil das Telefon auf seinem Schreibtisch fast ununterbrochen klingelt. Weil im Minutentakt neue Emails kommen. Friese ist Kapitän zur See und stellvertretender Kommandeur des Landeskommandos Bayern. Seit Samstagmorgen ist es seine Aufgabe, zu koordinieren, Soldaten in die Hochwassergebiete zu schicken, in denen Katastrophenalarm ausgerufen wurde. Er muss Anträge von Landräten und Bürgermeistern nach Berlin weiterleiten, auf Kommandos aus dem Verteidigungsministerium warten und die Soldaten dann in Städte und Landkreise schicken, in denen Einsatzkräfte von Feuerwehr und THW dringend Unterstützung brauchen, um die Situation in den Griff zu bekommen. Er muss sich um das Hochwasserchaos in Bayern kümmern, während sein eigener Keller in Salzburg unter Wasser steht. „Es war eine meiner schwersten Entscheidungen, meine Familie mit den Problemen alleinzulassen“, sagt er.
Aber er wusste schon Freitagnacht, dass eine schwere Woche bevorsteht. Deshalb hat er sich Samstag in aller Früh ins Auto gesetzt und ist in die Lagezentrale nach München gefahren – ohne offiziell angefordert zu sein. „Um 8 Uhr war ich hier, um 9 Uhr waren wir einsatzbereit, um 10.27 Uhr ist im ersten Landkreis Katastrophenalarm gemeldet worden.“ Der erste Antrag auf Hilfe der Bundeswehr kam aus dem Berchtesgadener Land. Ihm folgten bis Sonntagabend neun weitere. „Außerdem spitzt sich die Situation in 15 weiteren Landkreisen gerade zu.“
647 bayerische Soldaten kämpfen momentan gegen das Hochwasser, 350 weitere sollen noch dazukommen. Sie füllen Sandsäcke, evakuieren Menschen, sichern Gebäude. Viele von ihnen waren gerade dabei, sich auf einen Auslandseinsatz in Afghanistan oder im Kosovo vorzubereiten. „Die größte Herausforderung wird es sein, die Durchhaltekraft unserer Leute zu bewahren“, sagt Friese. Und: Nicht alle Soldaten kann er solange halten, wie es nötig wäre. „Sie müssen ihre Auslandseinsätze erfüllen.“ Der große Unterschied zu den schlimmen Hochwasser 1999: Es gibt noch rund 40 000 Soldaten in Bayern, seit die Wehrpflicht ausgesetzt wurde – vor einigen Jahren waren es dreimal so viele. „Die meisten Bundeswehrstandorte sind nur zu 60 Prozent befüllt“, sagt Oberstleutnant Klaus Schöneich. „Dieser Einsatz wird wohl noch mindestens in die nächste Woche hineindauern. Das werden wir ohne Unterstützung aus anderen Bundesländern nicht stemmen können.“
Die Soldaten im Lagezentrum in München arbeiten in Zwölf-Stunden-Schichten ohne Pausen. Sie schlafen auf Feldbetten im Gang der Kaserne bis zu ihrer nächsten Schicht. „Wir müssen funktionieren“, sagt Friese. Egal, wie lange dieser Einsatz dauert. Er reibt sich über die Augen, dann wirft er kurz einen Blick auf sein Handy. Wieder ein verpasster Anruf. Seine 18-jährige Tochter Miri hat geschrieben. „Wir haben alles im Griff. Du auch?“ Matthias Friese muss lächeln. Dann macht er sich wieder an die Arbeit. Die Woche hat gerade erst begonnen.
Von Katrin Woitsch