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In der Freilassinger Notunterkunft kümmern sich Ärzte, Krankenschwestern und Rettungssanitäter ehrenamtlich um bis zu 1500 Menschen täglich. Die Kinder leiden am meisten unter den Strapazen der Flucht
Jaleel, der etwa zwölfjährige Bub aus Afghanistan, geht auf Nummer sicher. Aus zwei Metern Entfernung schaut er sich genau an, was der deutsche Doktor da gerade mit dem Mann aus Syrien anstellt. Der heißt Suleiman und hat Halsweh. Dann plötzlich der grelle Strahl einer Taschenlampe au f Suleimans herausgestreckter Zunge. Jaleels Kopf kippt neugierig nach vorne, sein Blick ist skeptischer denn je. Der Doktor und der ihm assistierende Soldat haben blaue Gummihandschuhe an – auch nicht sehr beruhigend. Aber die Schmerzen am Fuß sind stärker als alle Bedenken. Minuten später sitzt der Flüchtlingsjunge im Sanitätsbereich der Notunterkunft Freilassing auf einer Feldliege und lässt sich behandeln.
Als ihm dann auch noch eine Sanitäterin der Bundeswehr einen Lutscher zusteckt, ist die Welt für Jaleel in Ordnung. Aufgeweckt blickt er auf die schwarze Plastikplane, die über eine Baustellenabsperrung gezogen wurde, um so etwas wie Intimität zu gewähren. Und einen Moment lang scheint alles vergessen: die schreienden Kinder draußen hinter der Plane, die aufgeregten Stimmen der Erwachsenen, die vor einem Labyrinth aus Sperrgittern darauf harren, dass endlich der Bus kommt, der sie weiterbringt – in eine Erstaufnahmestelle für Asylbewerber. Oder endlich näher heran an Skandinavien, wohin viele wollen.
Kurze Zeit, nachdem die Sanitäterin Jaleels geschwollenen Zeh behandelt hat, verschwindet der Bub wieder in die Welt jenseits der schwarzen Planen. Dorthin, wo sich Feldbett an Feldbett reiht. Darauf Männer, Frauen und Kinder, die in ihrer Erschöpfung dicht aneinander gedrängt in den Schlaf fallen. Unmittelbar daneben sitzen Frauen mit Kopftüchern, die in gerader Reihe – wie mit dem Lineal gezogen – auf gepackten Taschen sitzen und nur auf den Moment warten, da ihnen Bundespolizisten einen Bus zuweisen.
“Die Menschen kommen in die Notunterkunft, bleiben hier zehn bis zwölf Stunden, und wenn ein Kontingent voll ist, werden sie zum Bahnhof gefahren, wo ein Sonderzug auf sie wartet”, sagt Rüttger Clasen. Der 67-Jährige, kurz zuvor noch misstrauisch von Jaleel beäugt, beugt sich nun über eine etwa 60-jährige Frau aus Syrien, die in Begleitung ihrer Söhne auf einer Bierbank Platz genommen hat. Die dient hier als Behandlungsstuhl. Der Frau sind die Blutdrucksenker ausgegangen. Minuten später ist auch sie wieder hinter der Plastikplane verschwunden. Clasen kommt einen Moment lang zur Ruhe. Sein Blick streift auf die provisorische Hausapotheke, die Unteroffizier Pascal Sieland – einer von Clasens Helfern – in drei Nachtschichten aus Biertisch-Garnituren zu einem geordnetem Regalsystem ausgebaut hat.
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Es riecht streng nach Menschen. Der penetrante Geruch hängt in der Luft, obwohl sich Clasen und sein Team immer wieder die Hände mit einem frisch duftenden Desinfektionsmittel einreiben. “Die Hygiene ist hier ein Problem”, sagt der 67-Jährige. Er weiß aber auch, dass die Menschen bislang auf ihrer Flucht keine Gelegenheit hatten, sich zu waschen oder auch nur die Kleider zu wechseln. “Man sieht sehr oft Hauterkrankungen aufgrund der hygienischen Verhältnisse”, sagt Clasen. Noch häufiger muss er momentan Infektionskrankheiten behandeln, die mit der Witterung einhergehen: Erkältungen, hohes Fieber. Clasen, der einst in Mainz studierte, hat von dort zwar das humorvolle Naturell mit nach Bayern gebracht. Doch als er auf die Kinder zu sprechen kommt, wird er schlagartig ernst. “Das ist bitter. Die sind oft sehr, sehr krank”, sagt er.
Notfälle würden gleich in ein Krankenhaus gebracht. So etwa jener zuckerkranke Mann, dessen Zeh verfault vom Fuß weghing. Oder jene Herzkranken, bei denen es plötzlich um Leben oder Tod ging. “Das hängt mir dann immer nach”, sagt Clasen. Und dabei ist ihm als ehemaliger Leiter der Bad Reichenhaller Dialysestation menschliches Leid durchaus vertraut. Für überwältigende Gefühle ist in einer sogenannten Clearingstation aber kein Platz. Es ist ein ständiges Kommen und Gehen. Clasen weiß nicht einmal mehr, wie viele Patienten er dann am Tag betreut hat. Nur soviel ist sicher, dass die Schübe, die von der bayerisch-österreichischen Grenze aus erfolgen, jeweils immer 50 Personen zum früheren Möbellager in der Sägewerkstraße bringen. “Man muss präsent sein, dann ist das stemmbar”, sagt er. Zweckoptimismus, denn jeden Tag sind es zwischen 500 und 1500 Flüchtlinge, die in der Freilassinger Notunterkunft eintreffen.
“Wir machen hier eben nur eine Notfallbehandlung, und Screening heißt nichts anderes als mal kurz drübergucken – fertig!”, sagt Clasen. In der Praxis bedeutet das: auf die Schnelle untersuchen, Allgemeinzustand begutachten, Fieber messen, auf Hautkrankheiten achten. Wenn es denn wirklich ernst wird, sind die Blaulicht-Kollegen gefragt. Die Übergabe an den Rettungsdienst erfolgt quasi auf dem kleinen Dienstweg. Clasen ist seit Jahren beim Bayerischen Roten Kreuz (BRK) als Kreisbereitschaftsarzt tätig. “In diesem Zusammenhang sind wir von Anfang an im Geschäft”, sagt er, “also seit Anfang September.”
Damals wurde das BRK im Berchtesgadener Land stets alarmiert, wenn mehr als 100 Flüchtlinge aufgegriffen worden waren. “Dann ging der Piepser los, und wir mussten ausrücken.” Die Notfalleinsätze wurden indes rasch zum Dauerzustand. “Wir wurden regelrecht überrollt”, sagt Clasen. “Mittlerweile habe das Ganze unter der Leitung der BRK-Stabsstelle “so eine Eigendynamik” entwickelt. Mit anderen Worten: Es läuft. Florian Halter, der Leiter der Stabsstelle, weiß aber, dass das seinen Preis hat: “Wir sind in Freilassing gerade im Rund-um-die-Uhr-Dauereinsatz.” Das alles funktioniere nur dank der vielen Helfer. “Auf rein ehrenamtlicher Basis”, wie Halter betont. Wenn Rüttger Clasen vor seine Krankenstation tritt, dann blickt er auf die Embleme der Wasserwacht, der Bergwacht und etlicher BRK-Bereitschaften, die für die medizinische Betreuung der Flüchtlinge in ihrer Freizeit zur Notunterkunft eilen. Es melden sich aber auch Krankenschwestern aus der Umgebung.
Klaus, der als Altenpfleger im Freilassinger Bürgerstift arbeitet, sagt, er habe sich ebenfalls freiwillig gemeldet. “Diese Schicksalsschläge, die die Flüchtlinge unverschuldet erlebt haben, da musste ich einfach helfen.” Für den 55-Jährigen heißt das: “Wenn ich nicht arbeiten muss, dann bin ich hier – auch nachts.” Etwas “Positives beitragen”, das war auch die Motivation, die den Zollbeamten Christian Bethke zu Clasens Team dazustoßen ließ. Bethke, als ehrenamtlicher Sanitäter tätig, ist immerhin von seinem Arbeitgeber für diese Tätigkeit freigestellt worden. “Ich bin hier das Mädchen für alles”, sagt er breit grinsend. Das ist natürlich schamlos untertrieben: Bethke managt allein das Logistiklager, schafft Medikamente heran, organisiert Essen und Getränke, knüpft Netzwerke mit anderen Helfergruppen.
Es ist eine Mannschaft von Idealisten, die hier zusammengefunden hat. Die Krankenschwester Astrid Mayer, alleinerziehende Mutter, kommt viermal im Monat. “Man darf nicht die Augen vor den Ereignissen hier verschließen”, sagt sie. Irgendetwas müsse doch geschehen. Und so lange die Politiker oben nicht weiter wüssten, brauche es “unten Leute, die schon mal reagieren”. Mit Sehnsucht nach heiler Welt hat dieses Engagement aber eher nichts zu tun. “Am Anfang war es erst einmal ein Schock. Die Menge der Leute, Tag und Nacht Licht und Lärm, viele kranke Menschen, Leid”, sagt die Krankenschwester Helena Specht, die vom Landratsamt abgeordnet wurde. Vereinzelt habe sie bei einigen Kriegsflüchtlingen auch Schussverletzungen verbinden müssen. “Wir haben Narben gesehen, offene Wunden”, sagt sie. Auch kleinere Verletzungen habe sie mitunter behandelt, die hier durch Schlägereien der Flüchtlinge untereinander entstanden waren. Meist ging es darum, wer zuerst in den Bus einsteigen darf. “Aber es gibt auch schon mal Probleme, wenn Flüchtlinge aus verschiedenen Ländern wie Afghanistan und Syrien in Streit geraten”, sagt sie.
Helena Specht hat kaum ausgesprochen, als lautes Geschrei ertönt. Es sind Leute der Security und der Bundespolizei. “Go away, go back”, schallt es durch die große Halle. Im Gitterlabyrinth entsteht heilloses Gedränge. Eines der Gitter wird verschoben, die Menschen kommen kaum noch durch. Da erscheint ein hochgewachsener Bundespolizist, redet ruhig auf die Leute ein. Allmählich entschärft sich die Lage. Hastig eilt schließlich ein abgezähltes Kontingent an Flüchtlingen durch das Labyrinth zum bereitstehenden Bus unten. “Wir sind hier halt so etwas wie eine Drehscheibe”, sagt Clasen. Der junge Bundeswehr-Unteroffizier Pascal Sieland, der ihm zur Seite steht, sagt: “Für diese Leute ist jetzt ein kleiner Teil geschafft. Ich denke, hier sind sie erst mal gut aufgehoben.” Ein junger Afghane, der draußen wartet, würde diese Aussage bestimmt gerne bestätigen, spräche er nur einen Brocken deutsch. “Germany good”, sagt er.