Es ist noch ruhig, morgens um halb zehn im Frühstücksraum in der Mehrzweckanlage Teuchelweiher. Bis spät in die Nacht haben die etwa 30 Frauen sowie einige Männer, die hier logieren, in der Bahnhofshalle in Zürich die Masskrüge an die Tische getragen. Vera, Ingrid, Rosalinde und Maria sind ausnahmsweise etwas früher aufgestanden, um von ihrer Arbeit zu erzählen. Wenn in der Schweiz «O’zapft is» gerufen wird, braucht es Fachkräfte für den Service. An den Dutzenden von kleinen und grösseren Oktoberfesten sind oft Frauen aus Bayern im Einsatz, die jahrzehntelange Erfahrung mitbringen. Sie sind mit Enthusiasmus dabei und eigentlich das einzig wirklich authentische an Schweizer Oktoberfesten.
Ingrid: «Jetzt sind wir 18 Tage in der Bahnhofshalle in Zürich im Einsatz, ohne Pause. Davor waren wir 10 Tage in Luzern und danach kommen noch 17 Tage in Winterthur. Dann ist man schon müde und will nur noch seine Ruhe haben.»
Vera: «Wir kommen schon seit 16Jahren in die Schweiz zu den Oktoberfesten. Es hat damit angefangen, dass Karl-Heinz Schwander das Oktoberfest in Winterthur zum ersten Mal organisiert hat. Da hat er neben dem Bier auch gleich das Servicepersonal aus Bayern kommen lassen.»
Rosalinde: «Wir sind eine grosse Gruppe von Frauen und auch einige Männer, die man für die Feste engagieren kann. Wir kommen alle aus der Umgebung von Erding bei München. Die meisten von uns haben noch eine andere Arbeit. Ich bin zum Beispiel in der Buchhaltung tätig und für die Oktoberfeste beziehe ich Ferientage.»
Ingrid: «Man hat schon auch versucht, Schweizer Personal einzustellen, aber das geht einfach nicht. Die Frauen sind hier zu wenig stabil. So zehn Masskrüge mit je einem Liter Bier drin, da braucht es schon Erfahrung, wie man die zum Tisch bringt.»
Vera: «Ich habe 1974 angefangen, als meine Tochter ein Jahr alt war. Da dachte ich, das schaffst du nie, die schweren Krüge. Da habe ich zuerst mal drei getragen, dann sechs und vier Stunden später warns dann schon zehne. Ich sag immer, wir brauchen kein Fitnessstudio!»
Rosalinde: «Wir vier haben auch 36 Jahre lang in München auf der Wiesn bedient. Dort sind die Tage lang und die Festhütten gross. Das brauchen wir jetzt nicht mehr. Wir kommen gerne in die Schweiz, vor allem sind wir gerne in Winterthur, wo wir über die Jahre zu den Leuten eine Beziehung aufgebaut haben.»
Rosalinde: «Natürlich ist es nachgemacht, wenn hier in der Schweiz Oktoberfeste stattfinden, aber die Atmosphäre ist trotzdem gut, und die Leute haben auch immer mehr Freude, sich entsprechend anzuziehen. Ein bisschen Bedarf, was den Stil betrifft, haben sie schon noch. Als mal ein Mann die Lederhose verkehrt herum angezogen hatte, mit dem Latz hinten, mussten wir schon lachen.»
Maria: «Je nach Fest haben wir ein spezielles Arbeitsdirndl. In München hat auch jede Festhütte ihre eigene Tracht. Früher, als wir in der Kaserne in Winterthur noch keine Waschmaschine hatten, mussten wir noch viel mehr Dirndl mitnehmen. Heute haben wir hier komfortable Zimmer, viel Platz und die Ruhe, die wir brauchen nach den lauten Arbeitstagen.»
Ingrid: «Jede von uns hat viele persönliche Sachen dabei. Zum Beispiel die Wäscheklammern, mit denen wir die Bestellungen am Dirndl befestigen. Die bekommen wir manchmal von den Gästen mit Widmungen, und jede hat ihre Geschichte. Die sammeln wir dann auch. Oder die Tabletts für die Teller. Die sind alle verschieden gefertigt und individuell beschriftet; wenn ich ein fremdes Tablett auf dem Arm habe, komme ich aus dem Gleichgewicht.»
Maria: «Als wir noch in München bedient hatten, konnten wir immer nach Hause nach der Arbeit. Die Familie ist es sich aber mittlerweile gewohnt, dass wir so lange in der Schweiz sind. Inzwischen sind diese in dieser Zeit auch am Bedienen. Meine Tochter, ihr Mann und jetzt auch meine Enkeltochter sind alle an den Festen. Es braucht schon eine Leidenschaft für diese Arbeit, sonst könnte man das nicht machen.»
Rosalinde: «Wenn dann in Winterthur Schluss ist, ist man froh und freut sich doch schon wieder auf das nächste Jahr.»
(Tages-Anzeiger)
(Erstellt: 08.10.2014, 23:30 Uhr)