Der Junge ist 13 Jahre alt, aber an diesem Tag zum ersten Mal in seinem Leben in einer Schule. Abdul Majid steht vorne zwischen der Tafel und dem kleinen bunten Holzkreuz an der Wand und deutet auf die große Weltkarte. Vor ein paar Wochen kam er aus Kundus, Afghanistan, nach Deutschland zusammen mit seinem Vater. Der habe ihm Englisch beigebracht.

Autor: Julian Staib, Jahrgang 1982, Redakteur in der Politik.
Dann klopft es. Jakob, ein kleiner, schüchterner Junge aus Polen, steht vor der Tür. Ein weiterer Schüler, der sich nun zu Viktoria (Ungarn), Giorgi (Georgien), Samuel (Albanien) und Eduard (Ukraine) setzt. Sechs Kinder zwischen zwölf und 14 Jahren. Alle sind still und aufgeregt. Der Dienstag ist der erste Schultag in Bayern und der erste Tag in der sogenannten Übergangsklasse der Mittelschule (Hauptschule mit Mittlere-Reife-Zug) im unterfränkischen Obernburg, einer speziellen Klasse für Kinder ohne Deutschkenntnisse.
„Herzlich Willkommen“ steht auf Deutsch an der Tafel. Die Kinder sollen sich vorstellen und etwas zu Herkunft und Hobbys sagen. „Isch bin hier“, sagt Samuel und zeigt auf Albanien. Jetzt lebe er mit seiner Familie im nahen Klingenberg. In Miltenberg gehe er in einen Boxverein. „Ich bin auch nicht aus Deutschland“, sagt der Lehrer. Roman Riffel, 33 Jahre alt, kam 1989 aus Almaty, Kasachstan, nach Deutschland. Er habe damals in drei Monaten Deutsch gelernt, sagt er den Schülern.
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Er habe keine Wahl gehabt, sei der einzige Migrant in einer Klasse mit Deutschen gewesen. Heute ist das anders. In der Mittelschule haben rund 30 Prozent der Schüler einen Migrationshintergrund, und unten im Ort baut die Bezirksregierung gerade eine Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber. Bis zu 192 Personen sollen dort ab Anfang 2016 leben. Hauptsächlich Familien, daher wird mit etwa 60 Kindern gerechnet, die natürlich alle auf eine Schule müssen. Auch in der Übergangsklasse werden wohl bald alle 15 Plätze belegt sein.
„Machogehabe bereitet Probleme“
Riffel spricht mit den Kindern Deutsch, Englisch und Russisch. Das ist für alle mühsam. „Kennt ihr das?“, fragt er sie und hält einen Comic in die Luft: Asterix und Obelix. „Die Odyssee“. Auch damit habe er Deutsch gelernt. Jeder Schüler solle sich heute aus dem Regal einen Comic mitnehmen. Nach vier Monaten sollen sie den Sprung in eine Regelklasse geschafft haben. Noch ist das kaum vorstellbar. Die meisten Kinder seien offen und lernbereit, sagt Riffel, zudem engagierter als viele deutsche Schüler.
Doch vor allem Kinder aus dem arabischen Kulturkreis bereiteten auch Probleme. „Machogehabe“ zählt er dazu. Doch am ersten Tag ist davon nichts zu sehen. Riffel sagt den Schülern, er wolle bald ihre Eltern kennenlernen. Auch den Kontakt zu Sportvereinen und Ehrenamtlichen sucht er. Erfolge im Spracherwerb würden vor allem davon abhängen, inwiefern die Kinder außerhalb der Schule integriert seien, sagt der Lehrer. Gelingt an dieser Stelle nicht die Integration, gelingt sie wohl nirgendwo.

© dpa, reuters
In Willkommensklassen lernen Flüchtlingskinder Deutsch
Name, Hobbys, Alter, Herkunft
Unten, im Erdgeschoss, findet später eine Feier für die Erstklässler statt. Viele aufgeregte kleine Kinder und Eltern mit Fotoapparaten sind zu sehen. Die Schüler der Übergangsklasse gehen daran vorbei. Durch die große blitzsaubere Sporthalle, dann raus, die Pausenorte und die großzügigen Sportplätze rund um die Schule besichtigen, an den Handarbeits-, Koch- und Bastelräumen vorbei. Alles wirkt sehr aufgeräumt. Aus dem Zimmer der zweiten Klasse winken ein paar Kinder, und unten im Tal qualmen die Schlote der örtlichen Industrie.
Nach dem Spaziergang sind alle etwas gelöster. Lachen, als jeder auf eine Papierfigur Name, Hobbys, Alter und Herkunft schreiben soll. „Fußball“ und „Real Madrid“ schreibt Giorgi dahin, wo das Herz ist. Auch Abdul Majid kann offenbar schon ein wenig schreiben. Die Pappfiguren werden so befestigt, dass sie sich an den Händen berühren. Sechs Figuren an einer großen, kargen Wand. „Da ist noch Platz für mehr“, sagt Riffel.
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