Wien/Wildbad Kreuth/London. David Cameron war sichtlich gut gelaunt, als er am Donnerstagmorgen vor malerischer Kulisse an die Mikrofone trat. Die Reise des britischen Premiers zur CSU-Tagung im oberbayrischen Wildbad Kreuth hat sich ausgezahlt: Bei seinen Forderungen zur Neuordnung der EU ist Cameron die Unterstützung der deutschen Christlichsozialen sicher. „Die Verhandlungen laufen gut. Sie sind hart, sie sind zäh, es geht um schwierige Themen“, räumte der Konservative ein. Dennoch zeigte er sich optimistisch, die Gespräche zu einem positiven Abschluss führen zu können. Das erklärte Ziel: Großbritanniens Zukunft in einer „reformierten Europäischen Union“ zu sichern.
Schon beim EU-Gipfel der Staats- und Regierungschefs Mitte Februar will Cameron den Deal für sein Land fixieren, der im Wesentlichen vier zentrale Forderungen umfasst: Die Abkehr von dem Grundsatz einer „immer engeren Union“ und mehr Macht für die nationalen Parlamente, eine Stärkung der EU-Wettbewerbsfähigkeit, mehr Rechte für Nicht-Euro-Länder sowie eine Einwanderungsbegrenzung und eine Kürzung der Sozialleistungen für EU-Ausländer. Vor allem die letzte Forderung ist strittig, weil sie einer Diskriminierung von EU-Bürgern gleichkäme – für die meisten Staats- und Regierungschefs der Union ein rotes Tuch. Zwar will sich auch die Regierung in London grundsätzlich zur Arbeitnehmerfreizügigkeit bekennen. Allerdings soll der Anspruch auf Sozialleistungen für Zuwanderer aus der EU in den ersten vier Jahren des Aufenthalts eingeschränkt werden. „Wir wollen verhindern, dass jemand Leistungen aus dem Sozialsystem beanspruchen kann, ohne vorher dazu beigetragen zu haben“, schrieb Cameron jüngst in einem Gastbeitrag für die „Bild“-Zeitung. So sieht das auch CSU-Chef Horst Seehofer. Er bezeichnete die Forderungen des Briten in Wildbad Kreuth als „CSU pur“. Und nicht nur das: Die kleine Schwester der Kanzlerpartei will sich daran ein Beispiel für eigene europapolitische Initiativen nehmen, wie Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt ankündigte. Sie lobte ausdrücklich die „Belebung der Diskussion über die Zukunft Europas“ und wünscht sich, „diese Debatte auch in Deutschland“ zu führen.
„Vernünftiges Quorum“ gegen EU-Regel
Einen konkreten Punkt aus Camerons Forderungskatalog wollen sich die Christlichsozialen bereits in naher Zukunft vornehmen: die Stärkung nationaler Parlamente. Ein Vetorecht für eine Gruppe von Parlamenten gegenüber der europäischen Gesetzgebung („Rote Karte“) könne „ein sinnvolles Mittel zur Stärkung ihrer Stellung“ sein, heißt es im Beschlusspapier der Tagung in Wildbad Kreuth. Die Rede ist von einem „vernünftigen Quorum“, das nach Meinung der Bayern Entscheidungen auf EU-Ebene künftig verhindern können soll. Bisher müssen ja bei den allermeisten EU-Regeln der Rat – also die jeweiligen Vertreter der EU-Regierungen – und das Europaparlament eine Einigung erzielen: Ein ohnehin zeitintensiver Prozess. Doch nicht überall in Europa stößt Cameron auf so offene Ohren wie im beschaulichen Wildbad Kreuth, wo er Mittwochabend auch Kanzlerin Angela Merkel zum Dinner traf. Schon am gestrigen Nachmittag wurde der Premier bei einem Treffen mit seinem ungarischen Amtskollegen, Viktor Orbán, auf den Boden der Realität zurückgeholt. Die Regierung in Budapest warnt ebenso wie andere osteuropäische EU-Mitglieder, der Vorstoß zur Einschränkung von Sozialleistungen dürfe nicht zu Diskriminierung führen (siehe Artikel rechts): Viele Bürger aus Osteuropa leben und arbeiten in Großbritannien.
Beim letzten EU-Gipfel vor Weihnachten hatte Cameron seine Forderungen erstmals detailliert vorgestellt. Merkel selbst kündigte nach den Gesprächen in Brüssel an, dem Briten entgegenkommen zu wollen – was das konkret bedeutet, ließ sie bisher aber offen. In Berlin heißt es, man wolle „extrem hilfreich“ sein, um Großbritannien in der EU zu halten. Auch einer – wahrscheinlich nötigen – Änderung der EU-Verträge dürfte sich Merkel nicht verschließen.
Zuletzt stimmte die deutsche Kanzlerin gar in den Chor jener ein, die eine Kürzung von Sozialleistungen für EU-Ausländer in Erwägung ziehen: Es sei „nicht die Intention des Freizügigkeitsgesetzes“, wenn jemand ohne Arbeit bereits Anspruch auf Sozialhilfe habe, sagte sie gestern in Berlin.
Letzte Umfragen pro EU-Austritt
Ein drohender EU-Austritt der zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Union soll also mit aller Kraft verhindert werden – doch die Stimmung im Land ist in den vergangenen Monaten auch wegen der anhaltenden, ungelösten Flüchtlingskrise Richtung EU-Gegner gekippt. Die letzte Umfrage vom gestrigen Donnerstag zeigt einen eindeutigen Trend: 43 Prozent der Bürger wollen die EU verlassen, 36 Prozent sind für einen Verbleib. Ein Fünftel der Wähler ist noch unentschlossen – und wird von beiden Seiten heftig umworben. Ob Cameron selbst für einen Brexit wirbt, macht er von dem Deal abhängig, den er mit seinen europäischen Partnern aushandeln will. Am Ende aber entscheidet der Bürger: Das Referendum über die britische EU-Mitgliedschaft könnte bereits im kommenden Juni stattfinden.
(“Die Presse”, Print-Ausgabe, 08.01.2016)