Es ist allemal lohnend, sich aus den Archiven noch einmal das alte Zitat von Bastian Schweinsteiger hervorzusuchen. Was hatte der inzwischen zu Manchester United gewechselte Nationalmannschaftskapitän im Mai 2008 nach einem Benefizspiel des FC Bayern im maroden Stadion am Böllenfalltor gesagt? “Die Leute hier waren sehr gut”, lobte der Mittelfeldspieler damals und vergab das Prädikat: “Zweitligareif.”
Nur zur Erinnerung: Der SV Darmstadt 98 war zwar gerade hessischer Oberligameister, aber so klamm, dass der von der Pleite bedrohte Traditionsverein in München anklopfte, ob die Stars nicht für einen guten Zweck vorspielen könnten. Der einstige Manager Uli Hoeneß sagte sofort zu. Und der Gast, der übrigens 11:5 gewann, willigte sogar ein, dass bei den Lilien auch ein gewisser Marc Faig mitspielen durfte: Der eigene Steuerberater hatte für 2.860 Euro bei Ebay ein Mitspielrecht ersteigert. Mit einem Ballkontakt bereitete er sogar ein Tor vor. 20.000 Menschen auf den alten Tribünen juchzten vor Freude.
Späterer Dank an Uli Hoeneß
Denn die mehr als 200.000 Euro, die durch den Auftritt von Franck Ribery und Kollegen zusammenkamen, waren ein wichtiger Baustein der Rettung. Der Ex-Präsident Hans Kessler sagte einmal: “Ich gehe sogar so weit und sage: Ohne Uli Hoeneß hätte der SV Darmstadt 98 nicht überlebt.” Trotzdem war vor sieben Jahren selbst die zweite Liga für die “Lilien” fast so weit weg wie die Erde vom Mond. Wie sollte bei der drückenden Schuldenlast und den vorsintflutlichen Rahmenbedingungen je wieder Profifußball an diesem Standort gespielt werden?
Die Antwort darauf hat in erster Linie Dirk Schuster gefunden, der mit einem kleinen, aber schlagkräftigen Team von Mitarbeitern sich über verschlungene Pfade auf beinahe abenteuerlich anmutendem Weg in die Bundesliga gekämpft hat. “Wenn es dieses Spiel damals nicht gegeben hätte, würde es dieses Spiel jetzt nicht geben“, sagte der Cheftrainer auf der Pressekonferenz vor dem Gastspiel der Bayern. Man wolle gewiss nicht nur die Grüßonkels sein, das stehe fest, trotzdem werde Darmstadt abseits des sportlichen Geschehens “ein freundlicher Gastgeber” sein. Denn es ist das Bonusspiel am “Bölle”.
Das Stadion ist eben uralt

Relikt aus alten Zeiten: Das Stadion am Böllenfalltor
Kein Duell in der Liga bietet mehr Gegensätze und größere Kontraste. Hier ein Lizenzspieleretat von rund 15 Millionen Euro, dort sollen es 195 Millionen sein. Hier ein Marktwert von rund 20 Millionen Euro, dort 560 Millionen. Und nichts veranschaulicht die zwei Welten mehr als die marode Spielstätte, die angeblich endlich 2017 durch ein neues Stadion ersetzt werden soll, aber ganz sicher ist das immer noch nicht.
“Bei uns in der Kabine ist es kalt, bei uns stinkt es, da werden die Bayern ihre Freude haben“, hatte Torwart Christian Mathenia vor wenigen Monaten im Aufstiegstaumel geunkt. Und Präsident Rüdiger Fritsch ließ sich sogar zu dem Versprechen verleiten: “Wenn der Pep kommt, wischen wir hier noch mal durch.” Nun allerdings hat sich der in Frankfurt tätige Wirtschaftsanwalt bei einem Rundgang selbst davon überzeugt, dass er nicht – wie von Schuster scherzhaft empfohlen – mit einem Putz-Eimerchen selbst Hand anlegen muss. Die Gästekabine sei in ordentlichen Zustand, richtete Fritsch aus.
Sulu trug das rosa T-Shirt diese Saison zuerst
Mehr als ein einfacher Tisch und Holzbänke stehen dort nicht. Die Darmstädter Umkleide ist zwar nicht komfortabler, dafür ein bisschen gemütlicher eingerichtet. Über dem Kabinenausgang hängt ein Konterfei mit dem “Mitarbeiter des Monats”. Vieles für den Zusammenhalt bringt das Trainerteam bewusst auf den Weg. 70 Absolventen der Fußballlehrer-Lizenz wunderten sich vor anderthalb Wochen am Rande eines öffentlichen Trainings, warum die Torschussübungen von so vielen Emotionen – Beifall für jeden Treffer – begleitet wurden. Es gilt bei allen Übungen ein strenges Punktesystem. Auch Ergebnisse vom gemeinsamen Bowlingabend können da einfließen.

Leitfigur der Lilien: Aytac Sulu
Jeden Monat wird der Punktbeste gekürt. Und der “Trainingsschlechteste”, wie ihn Schuster nennt, muss einen Tag lang ein rosa T-Shirt tragen, auf dem vorne “Tussi” und hinten “Fehleinkauf” steht. Zuerst landete es in dieser Saison bei Kapitän Aytac Sulu, der den Spott aber leicht ertrug. Der Deutsch-Türke ist Schusters verlängerter Arm auf dem Spielfeld. Führungsfigur für die Ansammlung von Aussortierten und Ausgestoßen, Arbeitslosen oder Ausgeliehenen. “Man hat hier die Chancen bekommen, sich noch mal zu beweisen“, erklärt der vor zweieinhalb Jahren in der zweiten österreichischen Liga gestrandete Innenverteidiger.
Und der 29-Jährige, der zuletzt in Leverkusen das Siegtor köpfte, kennt auch das Rezept, mit denen der erstaunlicherweise noch ungeschlagene Underdog die “vielleicht beste Mannschaft der Welt” (Schuster) ärgern will. Große Leidenschaft, hohe Disziplin – irgendwo dicht vor dem Strafraum wird die “Kampfzone” sein, die der aus Chemnitz stammende Schuster errichten will. Sulu sagt: “Wir wollen Bayern ärgern, am besten mit fiesem Fußball. Es geht hier nicht um Trikots sammeln, sondern um Einsatz und Fleiß.” Ganz anders also als damals im Mai 2008, als sogar einige Darmstädter Spieler hinterher sich Autogramme abgeholt haben sollen.
Stand: 18.09.2015, 12:23