Besinnliches zu Freibier und Lederhosen

Von Michael Lehner

MÜNCHEN Diesmal ist München der Nabel der Republik am Tag der Deutschen Einheit. Die gute Stube der Stadt, zwischen Marienplatz und Siegestor, ist eine einzige Party-Meile, zwei Tage lang. Sogar ein Brandenburger Tor im Miniformat haben sie aufgebaut. Es gibt Brotzeiten und Freibier – und auch Besinnliches im Meer der Deutschland-Fahnen. Dass die stolze Erwartung von 500000 Einheitsgästen auch mit dem Oktoberfest zu tun hat, bestätigt der Prominenten-Auftrieb auf der „Wiesn“. Obwohl sich die Kanzlerin den Bierzelt-Bummel mit Bayern-Premier Horst Seehofer geschenkt hat.

22 Jahre nach der Wiedervereinigung steht die Münchner Party auch für Normalität. Das Trauma der Trennung ist außerhalb von Gottesdienst und Festakt nur noch am Rande zu spüren. Zum Beispiel am Glaskasten, den die Leute aus Mödlareuth aufgestellt haben: Das Modell eines Dorfes, das ein Menschenleben lang durch Mauer und Todestreifen mitten durch die Gemeinde getrennt war. Umlagert ist Klein-Mödlareuth in München nicht gerade.

Von den Jungen, die fürs Oktoberfest nach München gekommen sind und dazu den Brücken-Feiertag nützen, sind nicht wenige weit weg vom Geschehen der Teilung: Franziska Girlinger zum Beispiel, die gerade mal fünf Jahre alt war, als die Mauer fiel: „Mein Mann arbeitet in Salzburg“, sagt die junge Frau aus dem Berchtesgadener Land, „und wir mussten erst mal überlegen, warum dort heute ein ganz normaler Arbeitstag ist.“

So oder so: Ganz Deutschland ist in München vertreten. Vom Shanty-Sänger aus Bremen über Carolin I., die „Heidelbeer-Königin“ aus Brandenburg bis zu den bayerischen Gebirgsschützen, deren Tracht sich so wohltuend von den Kasperl-Lederhosen mancher Wiesn-Bummler unterscheidet. Sie lernen, dass eine Fischsemmel in Schleswig-Holstein Matjesbrötchen heißt und trotzdem gut schmeckt. Nicht nur Ost und West kommen sich näher, sondern auch der Norden und der Süden – zumal im Hofgarten an Seehofers ellenlanger Brotzeit-Tafel für die geladenen Länder-Delegationen.

„Schwarz-Rot-Gold unter weißblauem Himmel“ schwärmt Seehofer beim Festakt in der Staatsoper, „ein Wohlfühltermin“. Im Jahr der bayerischen Bundesratspräsidentschaft hat den Freistaat die Ehre getroffen, den Tag der Einheit zu feiern. Und es war klar, sagt der Ministerpräsident, dass die Zeit reif war für ein „fröhliches Bürgerfest“. Aus dem befürchteten Chaos ist jedenfalls ein heiteres Chaos geworden: Eine komplette U-Bahn-Station wurde vorsorglich gesperrt. Der öffentliche Nahverkehr ist ohnehin eine einzige Abenteuerreise, wenn zugleich Oktoberfest, ein Feiertag und auch noch schönes Wetter ist.

In der Michaelskirche, in der kluge Predigten Tradition haben, ist Raum für Besinnung im Feiertagstrubel. Die Gottesdienstbesucher sind handverlesen, in der ersten Reihe Bundespräsident und Kanzlerin. Kardinal Reinhard Marx, der Münchner Erzbischof, erinnert an die Demut und Dankbarkeit, die an solchem Tage eben auch geboten seien. Und er redet Europa-Skeptikern ins Gewissen: „Wir sind nicht alleine als Deutsche unterwegs, sondern wir sind unterwegs als Europäer.“ Ohne die Europäische Gemeinschaft, sagt Marx, hätte es die Einheit wohl nicht gegeben, auch dafür müssten die Deutschen „dankbar“ sein:

Heinrich Bedford-Strohm, Bayerns evangelischer Landesbischof, wird noch deutlicher. Er warnt vor Überheblichkeit gegenüber anderen Ländern: „Demut bewährt sich gerade dann, wenn es einem besser geht als anderen.“ Und er verweist zugleich auf die wachsenden sozialen Spannungen im reichen, wiedervereinigten Deutschland: „Die Schlecker-Frauen haben ihren Job nicht verloren, weil sie schlecht gearbeitet haben.“ Das Geschenk der Einheit sei Anlass zum Nachdenken, „dass Glück zu den Dingen gehört, die mehr werden, wenn man sie teilt“.

Ein paar hundert Meter weiter wird derweil schon richtig gefeiert. Trachtenkapellen spielen auf, die Ludwigstraße ist tatsächlich fast so überlaufen wie bei der Fußballweltmeisterschaft, bei der dort die Nationen unter freiem Himmel feierten. Wieder schwenken auch Bayerns Türken schwarz-rot-goldene Fähnchen.

Jede Menge Italiener haben ihr traditionelles Oktoberfest-Wochenende verlängert. Alberto Cristanelli, Rechtsanwalt aus Trient, präsentiert sich im Trachtenhut mit Birkhahn-Federn und sagt kluge Worte: „Wir müssen auch feiern, dass Europa existiert. Vor hundert Jahren kämpften unsere Großväter noch an der Front in den Dolomiten gegen Österreich-Ungarn.“

Ganz offiziell hat die Einheitsfeier Bayerns Steuerzahler 2,5 Millionen Euro gekostet. Nicht zu viel für so einen Tag, findet der Ministerpräsident. So gut angelegt wie das Geld für die Wiedervereinigung: „Wir können stolz sein auf das, was in den letzten 22 Jahren in Deutschland geleistet wurde.“ Und dankbar, wie er es war, als im Bundestag am 9. November 1989 die Nachricht die Runde machte, dass in Berlin die Mauer fiel und die Abgeordneten spontan das Deutschlandlied gesungen haben: „Da hatte ich eine Gänsehaut“, gesteht Horst Seehofer.

(Erschienen: 04.10.2012 07:30)

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