In München-Obergiesing rauscht der Verkehr, die Haustür klickt und klackt, und der Briefkasten klimpert gleich mit. Gewöhnliche Klänge, der ganz normale Stumpfsinns des Alltags. Aber hier beim Indie-Label Trikont begegnet einem auch der Irrsinn – das fängt gleich mal mit dem vergessenen Interview-Termin an.
“Der Irrsinn ist natürlich auf der einen Seite etwas Aggressives, das ist auch negativ besetzt. “Der Irrsinn ist so was Changierendes, so Vielschichtiges – was die Bayern speziell gut beherrschen.”
“Der Irrsinn” ist nach Liebe und Tod, Rausch und Freiheit der fünfte Teil und vielleicht auch der bayerischste Aspekt einer subjektiven CD-Enzyklopädie.
“Der Irrsinn war eigentlich, muss ich ehrlich sagen, das Schwierigste von allen, eben weil er nicht so eindeutig ist, und weil uns vollkommen klar war, wir wollen keine Comedy-Show machen. Also du findest ja wahnsinnig viele lustige, irre, irrwitzige Geschichten. Weil natürlich bleibst du erst mal gerne beim Lacher hängen.”
Schlicht und ergreifend “Stimmen Bayerns” betiteln die Label-Macher Eva Mair-Holmes und Achim Bergmann diese akustische Nabelschau.
“Als wir zum Beispiel den “Tod” gemacht haben, wovor ich eigentlich Angst hatte was zu finden, weil ich gedacht habe, das wird so ein Heavy-Thema. Tod, will das eigentlich jemand hören, eine CD, wo es um den Tod geht? Gesungen, gesprochen, gedichtet. Und da ist mir das schon aufgefallen, dass es so eine Art gibt, sich mit dem Schrecken auseinanderzusetzen, indem du dem verschiedene Ebenen gibst. Also zum Beispiel auch die Komik, um es leichter ertragen zu können. Und das ist für mich auch der Irrsinn: Du dröselst eigentlich Realitäten auf, und schiebst etwas Flirrendes, was Irres dazu.”
Die Texte sind giftig bis keck – wie ein Mückenstich
Der Irrsinn hat viele Gesichter, vor allem in Bayern: Er ist um die Ecke gedacht, lustig bis launig, schelmisch bis schauderhaft. Und irgendwie ist der Irrsinn auch manchmal voller melancholischem Humor, dann wenn der Alltag auf unseren Schultern lastet und das Leben aber doch eigentlich schön ist.
Gedichte und Prosa, Popsongs und O-Ton-Material – 28 Stücke in nur einer Stunde Laufzeit. “Stimmen Bayerns – Der Irrsinn” ist ein kurzweiliges Hörvergnügen, selbst wenn die Musik manchmal gefällig klingt, sind die Texte giftig bis keck. Wie ein Mückenstich eben: Er pikst, er juckt – und ehe man sich versieht, ist er auch schon wieder verheilt.
“Ihr lieben Blutsauger, ihr wollt auch nur leben / Und ich würde auch von mir wirklich gerne etwas hergeben / Wartet halt bitte, bis ich eingeschlafen bin / Sonst erschlage ich euch, auch wenn ich sonst nicht so bin…”
“Bei Karl Valentin und Liesl Karlstadt “Der Vogelhändler”, da ist es natürlich vollkommen klar. Es ist einfach absurd und irrwitzig, einen Vogelkäfig ohne Vogel zu verkaufen, und zu behaupten: Das kann nicht sein, weil ich verkaufe nur Käfige mit Vögel. Und das macht der ja, wie er es immer macht. Das geht ja endlos.”
Die Absurdität des doppelten Bodens, der versteckte Wahnwitz hinter dem Bierernsten. Im bayerischen Irrsinn wird das Verrückte zum leicht Entrückten, zur endlosen Spirale aus Sinn und Unsinn.
“Nur wenn oben etwas hinein kommt, kommt unten etwas heraus. Ein Weißbier zum Beispiel, tut man oben hinein, dauert es eine Zeit, dann kommt es unten wieder heraus…”
Und natürlich bleibt auch so mancher Lacher dem Hörer im Halse stecken, wenn zum Beispiel Günther Beckstein in einem Bierzelt Patrioten-Parolen schwingt.
“Da sind uns natürlich tausend Sachen eingefallen. Weil in der bayerischen Politik, aber natürlich nicht nur der… Im Moment in der ganzen EU, könntest du auf wundersamste Weise den Irrsinn finden. Aber dann haben wir gesagt: Das ist ja deprimierend, es soll ja jemand mit Freude eine CD durchhören können.”
“Oh, Kind ich sag Dir, mich zerfrisst / Wozu der Mensch so fähig ist…”
“Stimmen Bayerns – Der Irrsinn” stellt nicht die Frage nach Sinn und Unsinn. Diese Zusammenstellung an gesprochenen und gesungenen Texten gibt uns nicht nur einen Einblick in die bayerische Seele, sie hält uns auch den Spiegel vor und schärft unseren Blick für die Abgründe des Alltags. Denn der Irrsinn als verkleideter Wahnsinn lauert überall, vielleicht oder gerade auch jetzt auf den Weihnachtsmärkten, im Kling-Kling der Glühwein-Tassen und Kaufhaus-Kassen.